3) Erstes Kapitel

Was erwarte ich vom Anfang einer Biografie? – Auf eine unterhaltsame Weise etwas zu erfahren von Groß/Eltern, den Umständen der Geburt, den Geschwistern, den Freunden, den besonderen Entwicklungsbedingungen, speziellen Fähigkeiten, eigenartigen Vorkommnissen… Es versteht sich von selbst, dass alle Aussagen auch stimmen sollten, mit Quellen belegt werden können, insbesondere dann, wenn es sich um ›Gerüchte‹ handelt, die ein neues Licht auf das Ganze werfen und meinungsbildend sind.

In unserem Fall hat Goethe selbst viel mitgeteilt, in seiner Autobiografie Dichtung und Wahrheit.

Was für ein schöner Titel! Dichtung und Wahrheit sind eine Einheit. Diese wird allerdings oft als ein Widerspruch interpretiert: entweder wahr oder erdichtet. Als ob sich Dichtung und Wahrheit gegenseitig ausschließen würden. Das gilt nur für den, der Dichtung mit ausgedachter Spinnerei verwechselt.

Hier wird ein Anspruch formuliert, der höher kaum sein kann: Dichtung und Wahrheit gehören zusammen, das eine ist ohne das andere nicht denkbar. Goethe war der Meinung, dass sich Geheimnisse besser in der Dichtung offenbaren und ausdrücken lassen, als in gewöhnlicher Prosa. (WA IV.35,158)  Das finde ich spannend. Verdichtete Wahrheit.

Welchem Ansatz wird der Geisteswissenschaftler R. Safranski nachgehen?

Etwas vorauseilend suche ich nach einer Kritik, um zu schauen, was die Experten ggf. dazu sagen und bekomme eine überraschende Antwort: »Schon bei der Schilderung der ›schwierigen Geburt‹ Goethes verzichtet Safranski wohltuend auf die Zeilen aus Goethes autobiographischer Schrift ›Dichtung und Wahrheit‹, in denen schicksalsträchtig vom Schlag der Uhr und der Konstellation der Gestirne die Rede ist. Dies ist eine Ausnahme in der Goethe-Biographik, und der Autor setzt allein damit schon einen eigenen Akzent.« http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=18510 (Stand 27.4.2014)

Da Goethe selbst und alle früheren Biografen vor R. Safranski Wert auf etwas gelegt haben, das in seiner Weglassung Akzente setzt, bin ich neugierig geworden, zu wissen, was so »wohltuend« verschwiegen wird und warum. Goethe begann sein erstes Kapitel mit biografisch-astrologischen Daten: Am 28. August 1749, mittags mit dem Glockenschlage zwölf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt. Die Konstellation war glücklich; die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau, und kulminierte für den Tag; Jupiter und Venus blickten sie freundlich an, Merkur nicht widerwärtig; Saturn und Mars verhielten sich gleichgültig: nur der Mond, der soeben voll ward, übte die Kraft seines Gegenscheins um so mehr, als zugleich seine Planetenstunde eingetreten war. Er widersetzte sich daher meiner Geburt, die nicht eher erfolgen konnte, als bis diese Stunde vorübergegangen. Diese guten Aspekten, welche mir die Astrologen in der Folgezeit sehr hoch anzurechnen wußten, mögen wohl Ursache an meiner Erhaltung gewesen sein: denn durch Ungeschicklichkeit der Hebamme kam ich für tot auf die Welt, und nur durch vielfache Bemühungen brachte man es dahin, daß ich das Licht erblickte. (HA 9,10)

Warum hat dieser Text (k)eine Aufmerksamkeit verdient? Weil die Sonne glücklich stand?

Was aber sonst noch, besonders über die halb poetische, halb historische Behandlung etwa zu sagen sein möchte, dazu findet sich wohl im Laufe der Erzählung mehrmals Gelegenheit, teilte Goethe in seinem Vorwort zu »Dichtung und Wahrheit« mit. (HA 9, 10) — Ich sollte eigentlich zunächst lesen, was Goethe selbst zu erzählen hat, direkt aus der primären Quelle …

Ὁ μὴ δαρεὶς ἄνθρωπος οὐ παιδεύεται. Mit diesem mehr als 2200 Jahre alten Satz des griechischen Komödiendichters Menandros begann Goethe seine autobiografischen Geschichte: »Der Mensch, der nicht geschunden wird, wird auch nicht erzogen.« – Das klingt nicht wohltuend. Doch warum ist gerade diese die Zeiten überdauernde Aussage so bedeutend, dass sie von Goethe als Motiv für sein Leben bestimmt wurde ? Er stellte sie allem voran.

Diesen ersten Satz von Goethes offenbartem Lebensgeheimnis lässt der Literaturwissenschaftler ebenso wegfallen. Er fragt sich das nicht, obwohl er 10 Jahre lang um sein Werk gerungen hat und weiß, dass es ohne Fleiß keinen Preis gibt.

Zurück zur Geburt. Die astrologische Konstellation am 28.8.1749 werde ich später mit aktuellen horoskopischen Programmen einmal überprüfen. Wie sie Goethe präsentiert ist sicher kein Zufall. Demjenigen, der um die alchemistisch-mystische Bedeutung der aufgezählten sieben Gestirne weiß, klingt sie schon jetzt vielversprechend und im Hinblick auf die Kraft des Gegenscheins sowieso spannend.

Dass  astrologische Gegebenheiten auch symbolhaft dafür stehen, dass alles bereits zum Zeitpunkt unserer Geburt festgelegt ist (nicht zu verwechseln mit: »schicksalsträchtig« vorherbestimmt), wird dann verständlich, wenn wir z.B. an unsere Gene denken. Niemand kann sehr hoch springen, wenn er kurze Beine hat, der Kurzsichtige sieht nicht, was in der Weite geschieht, ein zartbesaiteter Mensch wird kein Politiker usw. Das, was wir bei der Geburt mitbekommen, können wir nutzen, etwas anderes haben wir nicht. Das allerdings zu erkennen, zu entfalten und zu leben, ist eine große – auch goethische – Forderung an uns. Ein anderer Aspekt:  sind wir nicht alle in eine unbekannte  universale Ordnung eingebettet?

Goethe hat als 68-jähriger diesen Gedanken verdichtet: Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen, / Die Sonne stand zum Gruße der Planeten, / Bist alsobald und fort und fort gediehen / Nach dem Gesetz, wonach du angetreten. / So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen, / So sagten schon Sibyllen, so Propheten; / Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt / Geprägte Form, die lebend sich entwickelt. (Urworte, Orphisch, BA 1,549)

Das ist etwas vorgegriffen, doch hier schließt sich ein Kreis zu den Geburtstagsaussagen.

Also noch einmal zur Geburt. Ich erfahre durch R. Safranski, dass es sich tatsächlich um eine schwierige Geburt gehandelt hatte, dass der Säugling für tot gehalten wurde und schließlich doch anfing zu atmen. Wie sehr sich die 18 Jahre junge Mutter darüber freute, wie groß das Wunder tatsächlich war, dass dieses Kind durch den erlittenen Sauerstoffmangel infolge der protrahierten Geburt keine schwere Gehirnschädigung davon getragen hatte, wäre vielleicht eine kleine Andeutung wert gewesen.

Dafür meint der Autor, dass der eben geborene Knabe mit Hilfe dieser Anstrengung später einmal als Dichter seine erste Pointe in seiner Autobiografie setzen wird, indem der Großvater mütterlicherseits als Schultheiß der Stadt Frankfurt angeregt worden war, eine bessere Ausbildung für Hebammen zu fordern. Zur gleichen Zeit etwa habe dieser Großvater mit seinem Schwiegersohn hieb- und stichfeste Kämpfe ausgefochten – wovon freilich der neugeborene Junge nichts mitbekommen konnte, was dieser aber doch in seiner Autobiografie hätte erwähnen müssen, findet Herr Safranski, ohne dass er den Zeitzeugen als Quelle dieser verschwiegenen innerfamiliären Spannungen näher bezeichnet. Der Eindruck, Goethe habe sich nicht zu diesen Konflikten geäußert, täuscht. In Dichtung und Wahrheit beschrieb Goethe, wie er als 7-Jähriger die Auswirkungen der unterschiedlichen politischen Meinungen während des »Siebenjährigen Krieges« (1756 -1763) erlebt hatte: Man stritt, man überwarf sich, man schwieg, man brach los. (HA 9,46) Der Vater war preußisch gesinnt, der Großvater kaiserlich. Dieser Streit störte den familiären Zusammenhalt. Johann Wolfgang sah sich zwischen den Fronten, wenn er Sonntagmittag allein beim Großvater war. Schon damls war das Gewahrwerden parteiischer Ungerechtigkeit dem Knaben sehr unangenehm, ja schädlich, indem es ihn gewöhnte, sich von geliebten und geschätzten Personen zu entfernen. (HA 9,48) Die Kinder verarbeiteten die Konflikte in Puppen- und Theaterspielen: Daß solche Spiele auf Parteiungen, Gefechte und Schläge hinwiesen, und gewöhnlich auch mit Händeln und Verdruß ein schreckliches Ende nahmen, läßt sich denken.( HA 9,50) Goethe sah in dieser kindlichen Unterhaltung und Beschäftigung andererseits auch einen Grund dafür, dass bei ihm auf sehr mannigfaltige Weise die Einbildungskraft und eine gewisse Technik geübt und befördert wurde, wie es vielleicht auf keinem andern Wege in so kurzer Zeit und mit so wenigem Aufwand hätte geschehen können. (HA 9,49)  Diese Ergänzung um die Ereignisse ab 1756 scheint mir für das Verständnis der späteren Lebenshaltungen von Goethe nicht ganz unbedeutend.

Recht ausführlich erfahre ich bei R. Safranski dafür, dass der Vater des Knaben, Johann Caspar Goethe, aus dem Hotelgeschäft und Weinhandel seiner Eltern ein ansehnliches Vermögen geerbt hatte, dass er trotz seiner Juristen-Ausbildung und seines gekauften Titels »Kaiserlicher Rat« keiner Arbeit nachging und auch sonst wenig Werke vorzuweisen hatte, als dieser die (übrigens 21 Jahre jüngere) Tochter des angesehenen Frankfurter Schultheißes im Jahr 1748 heiratete. Was allerdings daran schlecht gewesen war, dass die kleine Familie in dem stattlichen Haus am Großen Hirschgraben zusammen mit der Weidenhofwirtin wohnte, der Mutter von Johann Caspar, Cornelia Goethe (verw.Walther), ist nicht nachzuvollziehen, zumal sie bereits 1754 verstarb. Andererseits fand es der neue Goethe-Biograf an dieser Stelle wichtig zu erwähnen, dass sich im Keller dieses Hauses begehrte Jahrgänge von Wein befanden, die eine Christiane Vulpius 1806 in Weimar gegen französische Marodeure verteidigen wird.

Der Autor setzt voraus, dass ich ihm in dem Durcheinander folgen kann, den Lebenslauf des gerade geborenen Knaben bereits kenne und somit weiß, dass dieser einmal in Weimar wohnen wird, zusammen mit den großmütterlichen Weinflaschen und Christiane Vulpius. Einige Seiten in diesem ersten Kapitel weiter – der jetzt junge Student Goethe hatte aus Leipzig zurückkehrend, einen Streit mit dem unzufriedenenVater hinter sich, über einen 14 Jahre zurückliegenden Umbau des Treppenhauses und über seinen Studienerfolg [sic] – taucht der Name Christiane Vulpius erneut auf. Zweimal wird diese Frau genannt und wir wissen schon über sie Bescheid: die erfolgreiche Kämpferin um die Weinflaschen ist des erwachsenen Goethes corpulenter Bettschatz in Weimar.

Im Zusammenhang mit der Vorstellung von Goethes Mutter Catharina Elisabeth Textor, macht sich der Autor Gedanken, warum Goethe später seine Mutter nicht in seiner Nähe haben wollte. Er vermutet, Goethe habe befürchtet, dass die Mutter mit ihrer Natürlichkeit in der vornehmen und förmlichen Welt Weimars anecken könnte und sich und der Mutter diesen Verdruß ersparen wollte. Ich erfahre, dass Goethes Mutter mit Anna Amalia einen herzlichen, fast ungestümen Briefwechsel unterhielt. Wer nun weiß, dass Anna Amalia in Weimar, die höchste adlige Person war, die Herzoginmutter, sollte die Überlegungen des Biografen zumindest befremdlich finden. Es scheint hier nicht der richtige Zeitpunkt, zu klären, warum Goethe seine Mutter in ihren letzten 11 Lebensjahren nicht mehr in Frankfurt besucht hat, doch ist der Eindruck entstanden, dass die Mutter-Sohn-Beziehung irgendwie fragwürdig bzw. gestört  gewesen sei, ohne, dass der Autor mich aufgeklärt hat.

Wieder zurückgekehrt zum Kind Johann Wolfgang, lese ich etwas von einer heiklen Beziehung des Knaben zu seiner jüngeren Schwester Cornelia, wieder ohne etwas Bestimmteres darüber zu erfahren, so dass meiner Fantasie keine Grenzen gesetzt sind.

Trotz der ungeheuren Andeutung, muss ich hier eine Pause machen und mich strukturierteren Alltagstätigkeiten widmen. Ich weiß nicht, wann ich wieder an das Kunstwerk des Lebens herankommen werde.