...oder werden der man ist. Goethe wollte fertig werden. Das ließ ihm bis zum Ende keine Ruhe. Das letzte Kapitel beginnt gewohnt seltsam. Wollte Goethe damit fertig werden, der zu sein, der er war, weil ihm die Vorstellung, das Leben komme erst am Ende zu seiner Vollendung, sehr zuwider war?
Irgendwie wollen diese ersten Aussagen nicht gut zueinander passen, denn jeder Lebensmoment sollte nicht erst vom Endzwecke her, sondern in sich selbst Wert und Bedeutung haben, verstärkt der Professor die Verwirrung. Er muss es selbst bemerkt haben, denn er wird auf einmal konkreter: Jedenfalls wollte er fertig werden mit den vielen Dingen, die er angefangen hatte. Das war er seiner Orientierung am Werk, das gewöhnlich ja auch Anfang und Ende hat, schuldig. Was für eine Begründung! Ich erfahre, dass Goethe seiner Arbeit etwas schuldig war und sich am Werk orientiert habe – und nicht am Leben.
R.Safransi teilt mir mit, dass der schöpferische Akt für Goethe etwas Objektives bedeute und dass alles bei ihm nach außen drängte, zur objektiven Gestalt, denn die Verinnerlichung war nicht seine Sache, daher suche Goethe auch nicht an der falschen Stelle, etwa in trüben Innenwelten.
Goethe würde dazu sagen: Ehe man andern etwas darstellt, muß man den Gegenstand erst in sich selbst neu producirt haben. (GG 5,62) Seinen Faust ließ er am Ende seines Lebens jedenfalls bezeugen: Im Innern ist ein Universum auch.
Wie der Literaturwissenschaftler Goethes Bildungs- und Erkenntnistrieb zusammenfasst, macht mich sprachlos: Er wollte essen und nicht bloß die Speisekarte studieren. – Ein banales Niveau, hatte der Vorsitzende der Goethe-Gesellschaft Weimar festgestellt; das war eine wohlwollende Kritik.
Es wird noch kurioser, denn R.Safranski behauptet doch tatsächlich, dass Goethe in den Briefen der letzten Jahre das ›Ich‹ ganz wegließ, um mit dieser Lüge zu begründen, Goethe habe jedes Mal das Subjektive vom Objektiven her gedacht.
Herr Safranski sieht im Erscheinen der Sorge im 5. Akt des Faust II Goethes Befürchtungen hinsichtlich der Moderne bestätigt: Bei Fausts Deichbau gegen die Elemente entsteht eine Risikogesellschaft, in der die Sorge als Vorsorge allgegenwärtig ist: Wen einmal ich mir besitze / Dem ist alle Welt nichts nütze; / […] / Sei es Wonne, sei es Plage, / Schiebt er’s zu dem andern Tage. Dass diese Betrachtung in Bezug auf die gemachte Behauptung nicht schlüssig ist, fällt ihm gar nicht auf. Diese Kürzung des Zitates der Sorge führt eher zu der bekannten Bibel-Aussage vom morgigen Tag, der für sich selbst sorgt. Was Herr Safranski allerdings weggelassen hat, wäre bestens geeignet gewesen, den Menschen unserer Risikogesellschaft zu charakterisieren: Und er weiß von allen Schätzen / Sich nicht in Besitz zu setzen. / Glück und Unglück wird zur Grille, / Er verhungert in der Fülle; […] Ist der Zukunft nur gewärtig, / Und so wird er niemals fertig.
So stolpere ich durch das letzte Kapitel bis zu dem 4. Satz vor dem Ende, in dem der Geisteswissenschaftler mich auf Goethes Verständnis von Freiheit aufmerksam macht: was die Freiheit betraf, so hat er sie politisch-rhetorisch nie gefordert, aber er hat sie gelebt. Das ist moderner philosophischer Umgang mit dem Thema Freiheit… Im Falle des durch äußere Umstände begünstigten Goethe, der die Freiheit sogar ererbt hatte, mahnt Herr Safranski: es gilt, dass man sie erst wieder erwerben muß, um sie zu besitzen.
Wie ließ Goethe seinen Faust an seinem Lebensende eindringlich fordern? – Das ist der Weisheit letzter Schluß: / Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, / Der täglich sie erobern muß. (HA 3,348)
Die hochgepriesene Biografie »Goethe Kunstwerk des Lebens« endet mit dem Hinweis, dass Goethe ein Beispiel dafür sei, wie weit man kommen kann, wenn man es als Lebensaufgabe annimmt, zu werden der man ist.
Wenn man über das dichterische Talent, den Intellekt, die Neugier, gute Lehrer und sonstige günstige Umstände zurückgreifen kann, wie es für Goethe zutraf, könnte es gut gelingen.
GOETHE als Vorbild ist anregend, als Beispiel allerdings aufregend, weil anmaßend und lähmend. Insbesondere nach dem Genuß dieser Biografie…
Wo ist übrigens der gestaltete, geformte, gerettete Augenblick geblieben, der für Goethe so wichtig gewesen sei und für den Leser ebenfalls erstrebenswert?
Goethe Kunstwerk des Lebens. – Der Literaturpreisträger bleibt sich treu bis ans Ende, indem er mich mit seinem Abschlusszitat noch einmal verstört, denn mit diesem verschiebt er den Blick vom Kunstwerk auf das Leben. Der sich nur an seinem Werk orientierende Goethe freut sich hier über den schmeichelnden Vorwurf, besser zu leben als zu schreiben.
Wie könnte es der Biograf gemeint haben, als er seinem Werk einen solchen Titel gab? Was ist denn das Kunstwerk des Lebens, also des Lebens Kunstwerk? – – – Goethe! — Oh, wie tiefgründig und klug: dem Leben ist ein Kunstwerk gelungen, indem es Goethe schuf. Betrachten wir es Goethisch, dann schießen sich Kunst, Natur und Leben einander nicht aus, sondern bedingen sich wechselseitig.
Der Titel macht auf einmal Sinn.
Wer sich ausführlich und seriös über das Leben von Goethe informieren möchte, dem seien die Biografien von Karl Otto Conrady: Goethe Leben und Werk und von Richard Friedenthal: Goethe Sein Leben und seine Zeit empfohlen. Nebenbei sei bemerkt: um im Spiegel Goethes uns und unserer Zeit besser zu verstehen, lese man den Groß-Meister selbst…
Inzwischen habe ich den etwas zerstreuten Honorarprofessor fast lieb gewonnen. Denn seine Biografie mit den »ausgewogenen Proportionen« und der »gewinnenden Diktion« (J.Golz) hatte eine mephistophelische Wirkung auf mich. Danke!
Pünktlich zum Geburtstag von Goethe und Werther ist mein Büchlein Werther Goethe – verbriefte Wahrheiten fertig geworden. Der Jalara-Verlag wird zunächst die virtuelle Version veröffentlichen. Eine Druckversion ist geplant.