Wer im Frieden
Wünschet sich Krieg zurück,
Der ist geschieden
Vom Hoffnungsglück.
Faust. Eine Tragödie.Teil 2
Wer im Frieden
Wünschet sich Krieg zurück,
Der ist geschieden
Vom Hoffnungsglück.
Faust. Eine Tragödie.Teil 2
Meinen treuen Lesern,
mögen wir gemeinsam dieses Jahr kraftvoll und glückerfüllt durchschreiten und zuversichtlich durch jenes Labyrinth wandeln.
Kritisiert, belächelt – gestern wie heute,
ein jeder sein Los beneidenswert fand,
denn es sind noch immer dieselben Leute,
die nie die kindliche Reinheit erkannt.
Für diese wird niemals der Nebel vergehn,
sie bleiben auch jetzt in der Dämmerung stehn.
Ihn hatte die Muse einst freundlich gegrüßt,
von ihrer Hand erhielt er den Schleier,
durch diesen erst hat sich sein Leben versüßt,
das ihm vergällt war mit alter Leier.
Denn niemanden gab es, der teilt‘ seine Pein,
allein, ohne Ziel, ohne Liebe zu sein.
Wer nicht versucht hat, sich selbst zu verstehen,
wird nicht des Herzens Reichtum erblicken,
der wird nie begreifen, was Blinde sehen,
und nie wird ein Tag ihn so erquicken,
dass er, getragen von kosmischen Schwingen,
in sich den Wunsch fühlt, darüber zu singen.
Kunstvoll geknüpft mit den Fäden der Liebe
ist Freundschaft dir stets ein heiliges Band,
du hältst nichts vom Lorbeer, der nur dir bliebe
und teilst deinen Ruhm mit gebender Hand
gern mit den Würdigen, die dich begleiten,
bereit sind, mit dir durch Welten zu schreiten.
Gemeinsam im Lichtschein der Hexe zu gehn,
kein Leid, keine Sorge hält ihn zurück,
wo die Lüfte der Weisheit und Liebe wehn,
findet er Reichtum, Verständnis und Glück.
Teufeln zu trotzen, was kann wichtiger sein,
wer Liebe empfinden kann, bleibt nie allein.
— Anna J. Rahn, 2016 —
Wer sich vom Text der Einleitung nicht abschrecken ließ, wird durch eine sehr gut lesbare und detailreiche Biografie auf den kommenden 850 Seiten bestens unterhalten. Der ehemalige und langjährige Direktor des Cotta-Archivs im Deutschen Literaturarchiv Marbach Bernhard Fischer weiß mit den oft verteufelt komplizierten Sachverhalten (S.14) umzugehen und erzählt sachlich, interessant und flüssig vom Leben des Entrepreneurs Freiherrn Johann Friedrich von Cotta von Cottendorf, der uns vor allem als Verleger der deutschen Klassiker Goethe und Schiller im Gedächtnis ist.
Wer war also dieser Cotta, der die seit 1659 bestehende Hof- und Canzelei Buchhandlung für 17.000 fl. seinem Vater im Alter von 23 Jahren abkaufte, obwohl er nach eigenen Angaben nur über 20 Taler bar verfügte? Er war ein promovierter Jurist mit Freude an der Mathematik, doch zur schönen Literatur hatte er auch später keine wirkliche Neigung.(S.19)
Die Entwicklung seiner Gewinne aus dem Verlag von 8.958 fl. im Jahr 1790 auf 57.9057 fl. (1800) und 127.874 fl. in dem Kriegsjahr 1806 zeigt seine kaufmännische Befähigung sehr deutlich. Mit seinem wachen Hang zur Spekulation – also Möglichkeitssinn – habe er zum gesellschaftlichen Wohl beigetragen. (S.14) Betrachtet man die Geschäftsgebaren genauer, wird aus dem willensstarken, langfristig und innovativ denkenden Entrepreneur ein beeindruckender Unternehmer mit einem nicht ganz gefestigten Charakter. (S.14) Diese freundliche Feststellung ließe sich mit einer Schriftanalyse differenzieren. B.Fischer liefert auf Seite 11 eine recht ausführliche Beschreibung der Handschrift von Cotta, die einerseits auf intuitive Intelligenz, diplomatisches Vermögen, spielerische und drängende Lust am Neuen hinweist, andererseits auch auf Nachlässigkeit, verschlungene Lösungswege und eigenwillige Selbstsucht. Letztere scheint die eigentliche Motivationsquelle.
Wer in so kurzer Zeit mit Verlagsarbeit zu nationaler Größe aufsteigen konnte, konnte sich nicht allein auf seine mathematische Fähigkeit, sein Verhandlungsgeschick und einen ausgeprägten Möglichkeitssinn berufen, es gehörte auch Glück dazu und eine an der Grenze zur Unredlichkeit ausgeübte Strategie. Die vielen Belege dafür liefert B.Fischer in bedachten Formulierungen, immerhin gehörte die Familie Cotta mit zu den Sponsoren dieses Buchprojektes. Zu den glücklichen Umständen zählte, dass die Familien Cotta und Schiller 5 Jahre lang im gleichen Haus wohnten, so dass sich der Kontakt zu Schiller und durch diesen zu den wichtigsten Autoren jener Zeit einfach ergab.
Was wie eine Erneuerung seines Verlagswesens klingt, ist in Wirklichkeit das Abschieben von Absatzrisiken auf Buchverkäufer und seine vertraglich gebundenen Autoren, die er mit scheinbar offenen Kalkulationsrechnungen überzeugte, auf seine komplizierten Staffelhonorare einzugehen. Diese wurden oft erst gezahlt, nachdem der Buchverkauf die Verlagskosten wieder eingespielt hatte.
Gegenüber der Familie Herders gab Cotta zu bedenken, dass dieses erst nach einem Verkauf von 1.000 Exemplaren der Fall sei, während er Schiller gestand, dass bereits 500 verkaufte Bücher genügen würden. Doch in seiner eigenen Berechnung setzte er die Bücherpreise so an, daß der Absatz von 200 – 250 Exemplaren die Auslage ersetzt. (S.39)
Eines seiner bewährten Mittel, sein Risiko maximal zu senken und den Gewinn zu sichern, war die Subskription, also die vorherige Kauf-Verpflichtung von Abonnenten oder Käufern. Mit Hilfe dieses speziellen Werbe-Vorganges, in den die betreffenden Autoren oft direkt einbezogen waren, ließen sich die Auflagenhöhe und das Honorar gut bestimmen – und regulieren. Klug war es auch, lokale Druckereien in der Nähe der Autoren zu verpflichten, wodurch die Autoren die Kontrolle der Druckbögen selbst übernahmen und Frachtkosten eingespart wurden. Den Buchverkäufern legte Cotta mit Subskriptionspreisen und kleinen Rabatten Daumenschrauben an. (S.685) Schließlich sparte er auch an der Ausstattung der Bücher. Mängel am Druck, am Papier und fehlende Sorgfalt bei Korrekturen beklagte nicht nur Goethe. Auch vor feindlichen Übernahmen kleinerer Verlagshandlungen machte er nicht Halt. Cotta presste den Markt gleichsam aus, stellt B.Fischer fest. (S.278)
Das auf diese Weise schnell anwachsende Vermögen investierte Cotta in Liegenschaften und Grundeigentum. (In den Jahren von 1807 bis 1822 für insgesamt 661.000 fl.; S.710) Cotta hielt Aktien an der Dampfschifffahrt, dem Minenverein Eberfeld, einer Tuch- und Papierfabrik, einer Flachsspinnerei und war am Weinhandel beteiligt.
Als er aus seinen Gütern jährlich 5000 fl. bezog, strebte Cotta nach politischer Macht. Er verlangte den in früheren Zeiten abgelegten Adelstitel seiner Familie zurück, erstritt sich vom Württembergischen König Wilhelm I. das Wahlrecht für die Ritterschaft des Schwarzwaldkreises und wohnte 1820 erstmals dem Landtag bei. Man munkelte, dass er gern Minister sein möchte. (S.555)
Je mehr Vermögen Cotta erwarb, desto mehr vernachlässigte er sein Hauptgeschäft, die Führung seines Verlages, und ließ sich von seinem Prokuristen Wagner vertreten.
Immer stärker trat nun sein eigentlicher Wesenszug hervor, den zu benennen B.Fischer aus Respekt vor Sponsoren und Sympathie für das bewegte Leben Cottas geschickt umschreibend vermeidet:
Cotta war ein Spieler und ein Spekulant – in einem kaum vorstellbaren Ausmaß -, der mit Königen verhandelte.
1788, ein Jahr nach der Verlagsübernahme, hatte der 24-Jährige erklärt, dass der Verlags-Handel der einträglichste und bloßer Spekulations-Handel sei. (S.39) Cotta spekulierte nicht nur mit Immobilien, Öl und Kolonialwaren im größten Maßstab (S.136), er spielte auch Lotterie (S.710) und war an der Wiener Warenbörse aktiv. Die Gier nach mehr Vermögen und die Sucht des Spekulieren setzte seine rechnerischen Begabungen und seine so erfolgreiche risikobewusste Zurückhaltung, wie im Verlagsgeschäft bewiesen, teilweise außer Kraft. 1827 verlor er 230.000 fl. an der Wiener Börse. (S.711) Sein Unrechtsbewusstsein wird deutlich, als er danach über den Undank der Welt klagte: Man hält mich für reich für sehr reich, es ist möglich, daß ich wenigstens in Verhältniß diser Ansicht arm sterbe – denn wer kennt die Opfer die ich Kunst und Wissenschaft brachte und noch bringe! (Cotta an Goethe, 12.April 1827, S.726)
Wenn man bedenkt, wie unwandelbar zäh Cotta ein Jahr zuvor Goethe seine Honorarvorstellungen diktierte für die Herausgabe des Gesamt- und Lebenswerkes, bekommt Cottas moralisch erscheinende Lebensweise einen noch tieferen Riss. Goethe hatte mit großem persönlichen Einsatz ein Privileg erstritten, das den Nachdruck seiner Werke deutschlandweit, sowie in Österreich verbot und daraufhin Angebote von großen Verlagsbuchhandlungen zwischen 80.000 und 100.000 Talern erhalten. Cotta setzte sein Honorar von 60.000 Talern für 40 Bände und 20.000 Exemplare auf 12 Jahre durch, natürlich nur mit Subskription. Er hatte Goethe aus früherem Vertrag zu einem Vorzugsrecht verpflichtet und konnte sicher sein, dass die Scheu Goethes vor einem neuen Verleger und konflikthaften Geldverhandlungen groß genug sein würde. Es ist schade, dass B.Fischer bei der Beurteilung der Vertragsgestaltung zwischen Goethe, seinem ihn vertretenden Sohn August und Cotta bzw. dem Vermittler Sulpiz Boissereé übliche Vorurteile ungeprüft übernimmt.
Cotta würdig an der Seite der Vielzahl von Selfmademan-Erfindern und -Wissenschaftlern zu sehen wie James Cook, James Watt, Alexander von Humboldt, gelingt mir nicht, da ein spekulativer Eigennutz bei allen seinen Geschäften hintergründig größer war als jenes planmäßige, verantwortungsbewusste und zuverlässige Vorgehen eines Entrepreneurs, das tatsächlich in neue Regionen des Wissens führt. (S.12)
Am Ende seines Lebens war Cotta trotz seiner Fehlspekulationen ein reicher Mann, dessen Kapital nach seinem Tod durch erfolgreiche Umlagerungen im Zuge des erbitterten Gefeilsches um das Erbe von seinem Sohn so minimiert wurde, dass Cottas zweite Ehefrau um einen Teil der Erbschaft gebracht wurde. Dieser Sohn Georg übernahm die Cottaische Buchhandlung und führte sie gewinnbringend weiter… (S.852)
Die umfangreiche Biografie liefert ein genaues Bild von einer sehr bewegten Zeit am Beginn des 19.Jahrhunderts und von den Menschen, die diese Zeit prägten. Der Umgang mit den Quellen ist exzellent, ebenso die wohlgesetzte Gestaltung des Buches durch M.Koltes. Absolut empfehlenswert.
Anmerkung:
fl. = Gulden, rheinisch (60 Kreuzer)
Der Kreis, den die Menschheit auszulaufen hat, ist bestimmt genug,
und ungeachtet des großen Stillstandes, den die Barbarei machte,
hat sie ihre Laufbahn schon mehr als einmal zurückgelegt.
Will man ihr auch eine Spiralbewegung zuschreiben,
so kehrt sie doch immer wieder in jene Gegend,
wo sie schon einmal durchgegangen.
Auf diesem Wege wiederholen
sich alle wahren Ansichten
und alle Irrtümer.
(J.W.Goethe,
1831)
Mögen alle friedliebenden Menschen einander finden und kraftvoll wirken.
Der Autor T.Spreckelsen fragt im Untertitel, ob die Schüler ihre knappe Schulzeit nicht sinnvoller verbringen können, als sich beispielsweise mit dem zweihundert Jahre alten „Faust“ zu beschäftigen, den sie ohne Hilfe nicht mehr verstehen.
Der schön aufgemachte Artikel in der FAZ Nr.10 vom 8. März, Seiten 64 und 65, beantwortet die gestellten Fragen in klassischer Weise: die Schüler von heute haben andere Interessen, weshalb Verlage und Lehrer ihnen die alte Weltliteratur nur sehr verschmälert und vereinfacht, eben mundgerecht anbieten können, ohne dass dieser Umstand wirklich untersucht wird.
Nirgends erfährt der Leser, welche Bedeutung Kunst und Kultur in einer Gesellschaft überhaupt haben, im Gegenteil entsteht der Eindruck, sie seien nicht unbedingt nötig, weil sie ohnehin mit ihren überflüssigen Fragen an der »Lebensweisheit« vorbei gehen, wofür ausgerechnet der Klassiker Seneca zitiert wird.
Entsprechend wird auch nicht der Versuch gemacht, zu erklären, was Kunst ausmacht, warum sie überhaupt existiert, weil sie doch keiner wirklich braucht, da sie unverständlich bleibt, und erst vereinfacht werden muß. Von der Schönheit der Kunst keine Rede, geschweige denn von den hochverdichteten Aussagen jener »Klassiker« zu Fragen, die das Menschsein betreffen, als seien diese längst beantwortet.
Vereinzelte Ausnahmen, in denen Grundschüler in Bamberg (?) als Projekt das Nibelungenlied kindgerecht und erhellend bis zum blutigen Ende nachspielen, lenken von der Tatsache ab, dass sich die Lehrerschaft einem gesunkenen Bildungsniveau weitgehend angepasst hat, und klassische Literatur eher in Stilrichtungen und Zeiteinheiten eingeteilt vermittelt, als Freude und Interesse an den Inhalten zu wecken. Denn die begabtesten und klügsten Menschen der Vergangenheit haben Antworten formuliert auf Fragen, die nichts an ihrer Aktualität verloren haben. Sie wussten, dass die Menschen nur über die Beeinflussung der Gefühle und Sinne in die Lage versetzt werden können, ihre Einstellung zu verändern, wobei es immer darum ging, die Gegensätze auszusöhnen, zu befrieden.
Auf der Suche nach Orientierung fragt sich und uns der Autor: aber was ist das, ein erfolgreiches Leben? Es sind nicht etwa humanistisch geprägte Werte, die dazu führen, sondern Verfahrens-, Problemlösungs- oder Lernkompetenz. Der Autor stellt fest, dass dieses Allgemeinverhalten an deutschen Schulen an die Stelle von zwingend zu behandelnden Inhalten getreten sei. Aber wer ist dafür verantwortlich zu machen?
Dass der Eindruck entsteht, die Jugend sei heute dümmer als früher, weil sie nicht interessiert sei und man sich schließlich der Jugend als einem Zeitgeist anpassen müsse, ist ernüchternd. Dabei wird vergessen, dass die Bildung einer Jugend nur so gut sein kann, wie das System, das diese Bildung vermittelt.
Im Übrigen hat Klassik weniger mit der höchsten Steuerklasse im römischen Latium zu tun. »Klassisch« kommt aus dem Griechischen und bedeutet soviel wie typisch, zeitlos, traditionell, vorbildlich, hervorragend; eine Klasse verbindet Gruppen mit gleichen oder ähnlichen Eigenschaften; die Klassik bezeichnet eine Zeit- und Kunstepoche mit diesen Merkmalen. Für Goethe war etwas im eigentlichen Sinne klassisch, wenn es für jetzt und für alle Zeit vollkommen gültig war. (WA IV.47, 189)
Immerhin bedauert der Autor am Ende mit den Worten des Feuilletonisten Fritz J.Raddatz, dass ein ganz großer Radiergummi über das kulturelle Gedächtnis hinweggegangen sei und dass die Schule ein Ort wäre dagegenzuhalten.
Warum benutzt er den Konjunktiv?
Im Hauptartikel der letzten Ausgabe des ZEITMAGAZINs von 2014 erklärt Julia Friedrichs: Weg vom Lärm, zurück zu mir selbst. Warum das nicht immer eine gute Idee ist.
Sie umkreist das Thema auf engen und weiten Wegen und findet nicht den Punkt, nach dem sie sucht. Sie befragt die Medienlandschaft, verschiedene Studien, Soziologen, Aussteiger und besucht die erste deutsche Konferenz für Entschleunigung (Slow Living Conference). Sie gehört zu denen, die ihre Slow-Emotion-Magazine in einer Jutetasche davontragen, sich dennoch über die Welt ernsthaft Gedanken machen und viele Fragen stellen.
Die Antworten bleibt sie sich und uns letztlich schuldig, zumal auch der Soziologieprofessor der Freien Universität Berlin Jürgen Kocka die Weltflucht-Zeitschriften lediglich hochinteressant findet als erstaunliche Parallele zum Rückzug des Bürgertums des 19. Jahrhunderts.
Was wollte die Autorin eigentlich mitteilen?
Dass sich die Aussteiger oder die Jugendlichen mit den biederen Sehnsüchten (ein Häuschen mit Garten, eine Familie, ein kleiner Hund) nicht mehr um die raue Restwelt bekümmern, die sie ignorieren oder vor der sie fliehen. Sie beschreibt es als ein weltweit zu findendes Phänomen, einen Megatrend, mit dem sich auch gut Geld verdienen lässt.
Dieses Problem ist komplex und einfach zugleich. Und ein sehr altes ist es auch. Schon der römische Staatsmann Seneca philosophierte im Jahre 49 n. Chr. darüber, als er in seinem Werk De brevitate vitae (lat. Von der Kürze des Lebens) über den richtigen Gebrauch der Lebenszeit nachdachte. Zeit ist genug da, die Menschen, die am lautesten jammern, sie hätten davon nicht genug, verschwenden sie auch am meisten. Unsere Lebenszeit ist kurz, der Tag flüchtig. Darum muß man mit der Schnellebigkeit der Zeit wetteifern durch rasche Benützung derselben, meint der alte Philosoph. Er warnt, dass die meisten, kein stetes Ziel im Auge habend, mit einer irren, sich selbst widersprechenden, sich immer aus sich selbst heraussehnenden Unbeständigkeit von Plan zu Plan umher jagen. Haben oder Sein, was ist das Ziel? Die fast 2000 Jahre alte Schrift ist brandneu.
Der neue Zeitgeist verberge, was eigentlich zählt, erklärt Julia Friedrichs: das Leben vieler Einzelner, die auf erstaunliche Weise ähnlich denken. Dieser Erkenntnis folgt die Beobachtung, dass die ehemaligen Weltverbesserer später häkeln, stricken und nähen, weil die Nähprojekte einen Anfang und ein Ende haben und nützliche Kompetenzen sind, wenn dereinst die Industrialisierung zusammengebrochen sein könnte. Andere sehnen sich nach der Höhle als Reaktion auf eine Arbeitswelt, die ständig antreibt, einfordert, abverlangt. Anders ginge es der Nachkriegsgeneration, die keine Zeit hatte, sich derart mit sich selbst zu beschäftigen, da existentielle Nöte sie bedrängten. Die Autorin wähnt, unsere Welt sei krank, womit sie wieder einen Kreis geschlossen hat.
Doch die modernen Informationsfluten strömen durch die reiche Welt, Julia Friedrichs fragt sich, wer sich eine solche Realitätsverweigerung erlauben kann und warnt, dass die Verweigernden einmal selbst zu denen gehören könnten, die in Lumpen auf der Flucht sind. Um nun nicht in eine Resignation zu verfallen, schlägt sie vor, wie Luther am Ende der Welt doch noch ein Apfelbäumchen zu pflanzen, allerdings nicht auf der eigenen Scholle.
Irgendwie hat sich etwas Hilfloses zwischen die Zeilen geschlichen, auch etwas Ängstliches, die Dinge beim Namen zu nennen.
Ein klein wenig anders betrachtet, die 2000 Jahre währenden Erkenntnisse nutzend, kommen andere Fragen hinzu. Was bestimmt das Denken der Menschen? Was ist lebenswichtig? Was ist ein sinnerfülltes Leben? Gibt es noch eine Tugend? Welche Funktion hat der Tod?
Was ist daran bieder, mit einer Familie in einem Haus wohnen zu wollen als Ausdruck der Sehnsucht nach Liebe, Freundschaft, Sicherheit und Frieden? Was ist schlecht, wenn das Ergebnis schöpferischer Tätigkeit und die Freude daran der Arbeit wieder ihren Wert verleiht. Was ist daran zu bemängeln, wenn die Muße ihren negativen Beigeschmack verliert, weil durch Beschaulichkeit und Kontemplation noch niemand zu Schaden gekommen ist? Der Rückzug des Diogenes hätte manches gemein mit dem Rückzug in den kleinen Kreis Gleichgesinnter. Leben und leben lassen – ein einfaches Prinzip …
Was stört die Befriedigung der eigentlichen menschlichen Bedürfnisse, für die wir doch all die neue Technik entwickeln?
Wer hat was davon, wenn wir in den Informationsfluten ertrinken, ohne klüger geworden zu sein?
Bestimmt das Sein doch das Bewusstsein, die Verhältnisse, in denen wir leben, unser Handeln und Denken?
Die Menschen in der reichsten aller Welten waren nie ihrer Bestimmung entfernter und näher zugleich: ihre Möglichkeiten zu nutzen, klüger und weiser zu werden, um für sich selbst und für andere zu sorgen, nach einem Einklang mit der Natur strebend.
Ich suche Klärung und Orientierung, sei ein Grund, weshalb junge Erwachsene den Aufmerksamkeitskurs Mindfulness-Based Stress Reduktion aufsuchen. Die unaufgeklärte Generation einer hoch entwickelten Zivilisation, etwas stimmt nicht.
Wir sitzen nicht allein auf einer Scholle und was um uns herum geschieht, vollzieht sich nicht ohne Gesetzlichkeit. Diese zu hinterfragen, zu erkennen, zu nutzen wäre eine sinngebende Hilfe bei der Suche nach Orientierung.
Der Philosoph J.Moser hatte 1829 Senecas Schrift neu übersetzt, die sich hauptsächlich über den weisen Gebrauch der Lebenszeit verbreitet, welcher darin bestehe, daß der höchste Lebenszweck, Wachsthum an Weisheit, erreicht werde. Was daran hindere, das sey eigentlich und wahrhaftig Verlust am Leben.
Es geht um Bewusstwerdung, um verstehen. Allein das Wort ‚Verstehen‘ sagt, wie es geht: ver-stehen, das Gegenteil von ver-laufen. Verstand hat nichts mit Stillstand zu tun, sondern mit Einsicht. Jetzt kann auch das ehrliche kluge Gefühl mitreden und harmonisierend wirken, ohne, dass es im Lärm versinkt. Es ist ein natürlicher Vorgang und die Forschung hat es längst bestätigt: Multitasking bringt Chaos ins Gehirn, besonders ins frontale, wohin unser Zeigefinger automatisch zeigt, wenn es uns zu bunt wird. Das Gehirn arbeitet dann langsamer, wir sind unkonzentrierter und fühlen uns ausgebrannt, weil die Speicher mit den Botenstoffen schneller versiegen, unser Gehirn entschleunigt sich selbst. Niemand kann den zweiten Schritt tun vor dem ersten ohne dabei zu stolpern. Also beantworten wir alle Fragen einzeln und nacheinander, wenn wir global, individuell und gesellschaftlich, denken wollen. Dann wäre auch das Risiko geringer, sich im Urwald der Manipulationen zu verirren. Und bedenken wir immer, dass unser Leben nicht endlos ist.
Es gibt nichts Gutes-außer man tut es. – Bleiben wir wachsam, fragend und aufrichtig.
...oder werden der man ist. Goethe wollte fertig werden. Das ließ ihm bis zum Ende keine Ruhe. Das letzte Kapitel beginnt gewohnt seltsam. Wollte Goethe damit fertig werden, der zu sein, der er war, weil ihm die Vorstellung, das Leben komme erst am Ende zu seiner Vollendung, sehr zuwider war?
Irgendwie wollen diese ersten Aussagen nicht gut zueinander passen, denn jeder Lebensmoment sollte nicht erst vom Endzwecke her, sondern in sich selbst Wert und Bedeutung haben, verstärkt der Professor die Verwirrung. Er muss es selbst bemerkt haben, denn er wird auf einmal konkreter: Jedenfalls wollte er fertig werden mit den vielen Dingen, die er angefangen hatte. Das war er seiner Orientierung am Werk, das gewöhnlich ja auch Anfang und Ende hat, schuldig. Was für eine Begründung! Ich erfahre, dass Goethe seiner Arbeit etwas schuldig war und sich am Werk orientiert habe – und nicht am Leben.
R.Safransi teilt mir mit, dass der schöpferische Akt für Goethe etwas Objektives bedeute und dass alles bei ihm nach außen drängte, zur objektiven Gestalt, denn die Verinnerlichung war nicht seine Sache, daher suche Goethe auch nicht an der falschen Stelle, etwa in trüben Innenwelten.
Goethe würde dazu sagen: Ehe man andern etwas darstellt, muß man den Gegenstand erst in sich selbst neu producirt haben. (GG 5,62) Seinen Faust ließ er am Ende seines Lebens jedenfalls bezeugen: Im Innern ist ein Universum auch.
Wie der Literaturwissenschaftler Goethes Bildungs- und Erkenntnistrieb zusammenfasst, macht mich sprachlos: Er wollte essen und nicht bloß die Speisekarte studieren. – Ein banales Niveau, hatte der Vorsitzende der Goethe-Gesellschaft Weimar festgestellt; das war eine wohlwollende Kritik.
Es wird noch kurioser, denn R.Safranski behauptet doch tatsächlich, dass Goethe in den Briefen der letzten Jahre das ›Ich‹ ganz wegließ, um mit dieser Lüge zu begründen, Goethe habe jedes Mal das Subjektive vom Objektiven her gedacht.
Herr Safranski sieht im Erscheinen der Sorge im 5. Akt des Faust II Goethes Befürchtungen hinsichtlich der Moderne bestätigt: Bei Fausts Deichbau gegen die Elemente entsteht eine Risikogesellschaft, in der die Sorge als Vorsorge allgegenwärtig ist: Wen einmal ich mir besitze / Dem ist alle Welt nichts nütze; / […] / Sei es Wonne, sei es Plage, / Schiebt er’s zu dem andern Tage. Dass diese Betrachtung in Bezug auf die gemachte Behauptung nicht schlüssig ist, fällt ihm gar nicht auf. Diese Kürzung des Zitates der Sorge führt eher zu der bekannten Bibel-Aussage vom morgigen Tag, der für sich selbst sorgt. Was Herr Safranski allerdings weggelassen hat, wäre bestens geeignet gewesen, den Menschen unserer Risikogesellschaft zu charakterisieren: Und er weiß von allen Schätzen / Sich nicht in Besitz zu setzen. / Glück und Unglück wird zur Grille, / Er verhungert in der Fülle; […] Ist der Zukunft nur gewärtig, / Und so wird er niemals fertig.
So stolpere ich durch das letzte Kapitel bis zu dem 4. Satz vor dem Ende, in dem der Geisteswissenschaftler mich auf Goethes Verständnis von Freiheit aufmerksam macht: was die Freiheit betraf, so hat er sie politisch-rhetorisch nie gefordert, aber er hat sie gelebt. Das ist moderner philosophischer Umgang mit dem Thema Freiheit… Im Falle des durch äußere Umstände begünstigten Goethe, der die Freiheit sogar ererbt hatte, mahnt Herr Safranski: es gilt, dass man sie erst wieder erwerben muß, um sie zu besitzen.
Wie ließ Goethe seinen Faust an seinem Lebensende eindringlich fordern? – Das ist der Weisheit letzter Schluß: / Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, / Der täglich sie erobern muß. (HA 3,348)
Die hochgepriesene Biografie »Goethe Kunstwerk des Lebens« endet mit dem Hinweis, dass Goethe ein Beispiel dafür sei, wie weit man kommen kann, wenn man es als Lebensaufgabe annimmt, zu werden der man ist.
Wenn man über das dichterische Talent, den Intellekt, die Neugier, gute Lehrer und sonstige günstige Umstände zurückgreifen kann, wie es für Goethe zutraf, könnte es gut gelingen.
GOETHE als Vorbild ist anregend, als Beispiel allerdings aufregend, weil anmaßend und lähmend. Insbesondere nach dem Genuß dieser Biografie…
Wo ist übrigens der gestaltete, geformte, gerettete Augenblick geblieben, der für Goethe so wichtig gewesen sei und für den Leser ebenfalls erstrebenswert?
Goethe Kunstwerk des Lebens. – Der Literaturpreisträger bleibt sich treu bis ans Ende, indem er mich mit seinem Abschlusszitat noch einmal verstört, denn mit diesem verschiebt er den Blick vom Kunstwerk auf das Leben. Der sich nur an seinem Werk orientierende Goethe freut sich hier über den schmeichelnden Vorwurf, besser zu leben als zu schreiben.
Wie könnte es der Biograf gemeint haben, als er seinem Werk einen solchen Titel gab? Was ist denn das Kunstwerk des Lebens, also des Lebens Kunstwerk? – – – Goethe! — Oh, wie tiefgründig und klug: dem Leben ist ein Kunstwerk gelungen, indem es Goethe schuf. Betrachten wir es Goethisch, dann schießen sich Kunst, Natur und Leben einander nicht aus, sondern bedingen sich wechselseitig.
Der Titel macht auf einmal Sinn.
Wer sich ausführlich und seriös über das Leben von Goethe informieren möchte, dem seien die Biografien von Karl Otto Conrady: Goethe Leben und Werk und von Richard Friedenthal: Goethe Sein Leben und seine Zeit empfohlen. Nebenbei sei bemerkt: um im Spiegel Goethes uns und unserer Zeit besser zu verstehen, lese man den Groß-Meister selbst…
Inzwischen habe ich den etwas zerstreuten Honorarprofessor fast lieb gewonnen. Denn seine Biografie mit den »ausgewogenen Proportionen« und der »gewinnenden Diktion« (J.Golz) hatte eine mephistophelische Wirkung auf mich. Danke!
Pünktlich zum Geburtstag von Goethe und Werther ist mein Büchlein Werther Goethe – verbriefte Wahrheiten fertig geworden. Der Jalara-Verlag wird zunächst die virtuelle Version veröffentlichen. Eine Druckversion ist geplant.
Erwartungsvoll habe ich soeben die Rezension des Vorsitzenden der Goethe-Gesellschaft Weimar, Jochen Golz, zur Goethe-Biografie von R.Safranski gelesen, die im Goethe Jahrbuch 2013, S.239-241 erschienen ist. Er beendet sie mit dem Satz: Seine kritische Lektüre kann guten Gewissens empfohlen werden.
Wie meint er das denn? Empfiehlt er uns die Lektüre, weil diese kritisch mit dem Thema Goethe umgeht oder empfiehlt er uns, kritisch mit der Lektüre umzugehen? Kurz vorher erklärt Herr Golz: Safranskis Buch ist ausgewogen in seinen Proportionen, gewinnend in seiner Diktion. Wohin soll sich der kritische Blick wenden?
Dieser merkwürdige Schluss irritiert. Denn der Goethe-Kenner J.Golz kann seinen Unmut über die entdeckten Irrtümer und Fehlleistungen nicht verbergen. Ihm fällt nicht nur auf, dass R.Safranski seiner Intention, Goethes Leben aus den Quellen – aus diesen allein, wie er im Vorwort versichert – darzustellen, untreu wird, er muss den Wortbrüchigen sogar mahnen, Standards der Goethe-Interpretation, wie sie aus dem Studium der im Literaturverzeichnis gemachten Werke zu gewinnen sind, nicht zu unterschreiten.
Im Umgang Safransiks mit Goethes Lyrik meint Herr Golz, dass es zumeist bei pauschalen Hinweisen bleibt, die manchmal geradezu verkümmern und im Prinzip auf diesem (Pardon) banalen Niveau verharren.
Er findet, dass Goethes politisches Wirken nicht genügend zur Geltung kommt, weist auf übernommene Vorurteile etwa in Bezug auf Goethes Beziehung zu Beethoven oder Ulrike von Levetzow hin und vermisst überhaupt den Nachweis eines Goethes Aktivitäten zugrundeliegenden, letztlich aufklärerischen Konzepts, das […] in seinen Grundzügen bis an sein Lebensende konstant blieb.
Jochen Golz gibt freundlich Hinweise, welche Quellen hilfreich gewesen wären, doch seien das nur Wünsche, die den Ertrag des opulenten Werkes aber nicht schmälern sollen.
Hm. Dann werde ich diese Rezension wohlwollend Goethisch bewerten: zu soviel Toleranz kann nur eine jahrelange Beschäftigung und Identifikation mit Goethe führen, denn dieser war gegen Kritiken weitgehend immun:
Da die dummen Eingeengten / Immerfort am stärksten pochten / Und die Halben, die Beschränkten / Gar zu gern uns unterjochten, / Hab ich mich für frei erkläret / Von den Narren, von den Weisen, / Diese bleiben ungestöret, / Jene möchten sich zerreißen. (BA 3,59)