6) Zweites Kapitel

…von Langer mit ein wenig Himmelstrost versehen, verläßt er Leipzig. Ein trauriger Student ohne Abschluß. Mit dieser Zusammenfassung beendet R. Safranski das Kapitel zu Goethes Studium in Leipzig. – Das klingt nach einem großen Scheitern.

Dabei erfahre ich, dass der Student auf großem Fuße lebte, wie ein närrischer Goût gekleidet war, sehr gutes Essen hatte, zusätzlich zu den Jura-Vorlesungen auch die damals anerkannten Literaturprofessoren aufsuchte, Gedichte schrieb und sein freies Leben genoss, dass er Wert legte auf eine eindrucksvolle Schauseite und auftrumpfte, weil er hier im fremden, auch mondänen Leipzig seinerseits gegen die Einschüchterung anzukämpfen hatte. Der Autor zitiert diesen [einschüchterungsgefährdeten] Studenten aus einem Brief an seine Schwester: Ich habe etwas mehr Geschmack und Kenntniß vom Schönen, als unsere Galanten Leute und ich konnte nicht umhin ihnen oft in großer Gesellschaft, das armselige von ihren Urteilen zu zeigen.

Erst einmal bis hierher. Goethes Studienzeit in Leipzig umfasste den Zeitraum vom Oktober 1765 bis August 1768. Dass Goethe vom Vater mit einem Monatswechsel von hundert Gulden (soviel verdiente ein tüchtiger Handwerker im Jahr) versorgt wurde, bleibt ohne Angabe der Quelle, so dass ich annehmen kann, R. Safranski hat diesen Hinweis von Wilhelm Bode übernommen, der diesen als Fußnote zu einem Brief von Johann Adam Horn an Wilhelm Carl Ludwig Moors (beides Jugendfreunde von Goethe) angefügt hatte. Der ebenfalls in Leipzig studierende Horn berichtete am 3.10.1766: Er hat […] mir seine Ökonomie entdeckt und gezeigt, daß der Aufwand, den er macht, nicht so groß ist, wie man glauben sollte. (W.Bode, Goethe in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen,I,12) Goethe selbst – wenn man seine Aussage in seinem Brief an den Freund Johann Jacob Riese als eine primäre Quelle gelten lässt – schrieb dazu: Und ich werde recht menageus leben. Da hoffe ich des Jahrs mit 300 was sage ich mit 300 mit 200 Rthr. auszukommen. […] Ich habe kostbaren Tisch. […] Und die Herrlichkeiten nicht teuer, gar nicht teuer. (10.10.1765, WA IV.1,15) Es ist von Reichstalern die Rede. Davon hat er also zwischen 17 und 25 Rt. monatlich zur Verfügung. Um einen Eindruck von dem Wert zu bekommen, habe ich ihn mit dem im Internet angegebenen Kaufkraftwert von 1967 verglichen: das wären in etwa 590 bis 880 DM im Monat gewesen, was grob gerechnet dem Durchschnittsgehalt von 1967 entsprochen hätte. Im Falle der angenommenen 100 Gulden wären 2.330 DM im Monat zusammen gekommen. Da ich der primären Quelle eher vertraue, als einer nicht näher bezeichneten Fußnote, würde ich den Angaben, die Goethe gemacht hat, glauben, zumal Ausgaben in dieser Höhe denen eines Studenten auch entsprechen können. Das Essen war offenbar preiswerter als gedacht, daher konnte der Studierende so menageus leben.

Goethe ließ sich auch nicht dadurch einschüchtern, dass man ihn für einen in der Gesellschaft überflüssigen Menschen hielt, mit dem nichts anzufangen ist, weil er dem Kartenspiel kein großes Vergnügen abgewinnen konnte. (WA IV.1,81) Dagegen setzte ihm die unfaire Art des Umganges mit seinen Dichtungen durch Freunde und Lehrer zu. Jedoch nur zeitweise, denn bald hatte er sich von den Vor-Urteilen jener gelöst und einen Umweg gefunden, seine Gedichte zu zeigen, durch eine ihn vor destruktiver Kritik schützende Anonymität. Der 17-Jährige war auf der Suche nach seiner eigentlichen Bestimmung. Dass am Ende seine Zweifel und Rückschläge keine Macht über ihn bekamen, wissen wir, doch damals mussten die Konflikte oft größer gewesen sein, als wir es uns vorstellen.

R. Safranski beschreibt recht ausführlich verschiedene Lehrkräfte, wie Gellert, Gottsched, Oeser. Darauf möchte ich hier nicht eingehen. Betrachtenswert erscheint mir allerdings, wie der Autor den Anspruch Goethes auf seine poetische Selbstbildung sieht: der junge Goethe war schon versiert in der Handhabung der Formen, aber er wußte inzwischen auch, daß man sie mit eigenem Leben erfüllen mußte. [….] es muß auch ein Erlebnisstoff hinzukommen, der die Kunst der sprachlichen Darstellung herausfordert. Diesen Erlebnisstoff lieferte die Liebesgeschichte mit der drei Jahre älteren Anna Katharina Schönkopf, für die der Student nach wenigen Tagen entflammt war. Der Autor meint weiter, Goethe schwelge nicht in Liebesgefühlen, um darüber schreiben zu können, doch sie bekommen einen zusätzlichen Kitzel, indem er darüber schreibt. Und so kommt der Biograf zur Überzeugung, Goethe durchlebe eine Geschichte, zu der es aber gehört, daß sie erst in ihrer lustvollen Versprachlichung zu ihrer vollen Wirklichkeit gelange.

Ich weiß nicht welche pysychoanalytischen Urteilskräfte hier zum Ansatz kamen, doch einiges scheint fragwürdig. Es ist die Frage, ob Goethe ein Erlebnis wie z.B. eine (un)glückliche Liebe zwar nicht gesucht habe, um sie in Sprache zu überführen, was er dann aber doch machte, weil er sich schreibend zusätzliche Kitzel verschaffen konnte, oder um seine Stanzen mit Leben zu erfüllen und weil erst so die Kunst der sprachlichen Darstellung herausgefordert sei. Hier stimmt das Bedingungsgefüge nicht.

Doch werde ich den Eindruck nicht los, dass Herr Safranski gerade darauf sein Werk aufbaut, indem er in Goethe den Poeten und den Künstler sucht, der in erster Linie beabsichtigte, sich als Dichter zu vervollkommnen, sich geistig zu bilden und der das Erlebte seinem schöpferischen Tätigsein entsprechend unterordnete, um es in eine Form zu bringen und damit bewahren zu können.

Freilich nennt es der Autor einen verwickelten Vorgang, doch hat er sich entschieden, das dichterische Werk Goethes weniger als das Ergebnis einer gelungenen Verarbeitung innerer Stürme, Zweifel, Leiden oder erlebter Glücksmomente zu betrachten, sondern als einen sich immer mehr verselbständigenden Prozess geistigen Schaffens. Damit ist er in der Tradition all jener, die glauben, biografische Ereignisse hätten kaum oder nur geringen Einfluss auf die Werke Goethes gehabt.

Hier wird die Kreativität Goethes von seiner emotionalen und vitalen Verfassung abgetrennt, so dass sich das dichterische Werk nun losgelöst vom seinem Schöpfer verallgemeinern, wissenschaftlich untersuchen und einordnen lassen kann.

Oder wie es R.Safranski in der sich widersprechenden Konsequenz seiner Gedanken sagt: eine Geschichte wird erst zur einer vollen Wirklichkeit, wenn sie lustvoll versprachlicht wurde. Das Erlebnis gehöre wohl dazu, doch sei es ohne die lustvolle Sprache unvollkommen. So meinte er es doch, oder? Bleibt uns nicht so dichterisch Talentierten also versagt, eine Geschichte in ihrer vollen Wirklichkeit zu erleben? Was nutzt uns dann die kunstvoll dauerhafte Spur eines Herrn Goethe? Doch mir kann er nicht weismachen, dass selbst die lustvollste Sprache schöner sei als das wirkliche Erleben selbst.

In einem von Sulpiz Boisserée aufgezeichnetem Gespräch hatte sich der 66-jährige Goethe zur Wirkung des Erlebten geäußert: es sei nicht leicht eine Begebenheit, worüber er sich nicht in einem Gedicht ausgesprochen. So habe er seinen Ärger, Kummer und Verdruß über die Angelegenheiten des Tages, Politik u.s.w. gewöhnlich in einem Gedicht ausgelassen, es sei eine Art Bedürfniß und Herzenserleichterung, Sedes p. Er schaffe sich so die Dinge vom Halse, wenn er sie in ein Gedicht bringe. (Goethe-Gespräche,III,208)

Herr Safranski erkennt die Funktion der dichterischen Tätigkeit für Goethe, wenn er ihn zitiert: Selbstbildung durch Verwandlung des Erlebten in ein Bild. Er sieht darin allerdings nur Form gewordenes Erleben, eine durch das künstlerische Schaffen dauerhaft bewahrte Spur. Das entspricht in meinem Verständnis allerdings nicht dem ursprünglichen Antrieb für das dichterische Tun Goethes.

Wir haben in Goethe einen hochsensitiven, emotionalen und intelligenten Menschen, der sein großes dichterisches Talent benutzen konnte, sein inneres Chaos zu ordnen, indem er es sich durch die Sprache bewusst machen konnte. Sein Gedicht, seine künstlerische Arbeit, ist das veräußerte Ergebnis einer Verarbeitung und Intergration des Erlebten, es ist mehr als die Zusammenfassung des Geschauten oder Erfahrenen. In diesem Sinne wirkt es selbsttherapeutisch oder besser: selbstbildend.

Ich hätte schon noch einige Gedanken über das in Form gebrachte, dauerhaft bewahrte – gerettete – Erlebnis. Dieser Leitgedanke scheint die Biografie von R.Safranski zu durchziehen und bekommt den Charakter eines Schwerpunktes in Goethes Leben. Hier ergibt sich die Frage, wie sich der Schwerpunkt eines Lebens focussiert, wie er sich finden lässt. Sicher ist er nicht das Ergebnis einer subjektiven Betrachtungsweise, sondern die Summe seiner Wirkungen auf das Leben selbst, die von diesem Zentrum ausgehen. Oder anders: der Schwerpunkt, um den das Leben Goethes kreiste, ist natürlich nicht abhängig von der Sichtweise seines Biografen. Dieser Wesenskern bestimmt sich selbst durch die objektiven Bedingungen, durch die er entstanden ist und seine Wikung entfaltet – also durch die genetisch festgelegten Fähigkeiten und  Möglichkeiten einerseits und die vorhandenen Umstände, in denen sich jene Fähigkeiten ausprägen, andererseits. Der gerettete, weil geformte Augenblick als erstrebter Lebensmittelpunkt scheint problematisch, weil er die Dynamik ausschließt, eine Entwicklung beendet. Es geht doch nicht darum, ein Erlebnis zu retten, dauerhaft zu formen oder zu bewahren, insbesondere wenn es in uns Ängste und Grauen ausgelöst hat, sondern immer nur darum, diesen Wesenskern zu schützen und zu entfalten, indem wir die verschiedenen Erlebnisse verarbeiten – um vernünftig und lustvoll zugleich leben zu können.

Vielleicht hat sich der Literaturprofessor etwas undeutlich mitgeteilt, und ich missverstehe ihn einfach nur ?

Ist es nicht merkwürdig, dass mir jetzt Goethes Gedicht  Dauer im Wechsel einfällt ?