8) Neuntes Kapitel (Bemerkungen zum Werther)

Du wirst grosen Teil nehmen an dem Leiden des lieben Jungen den ich darstelle. Wir gingen neben einander, an die sechs Jahre ohne uns zu nähern. Und nun hab ich seiner Geschichte meine Empfindungen geliehen und so machts ein wunderbaares Ganze, versicherte Goethe im Frühjahr 1774 seinem neuen Freund Lavater. (WA IV.2, 156)

In diesem Beitrag möchte ich einige Bemerkungen zur Werther-Rezeption in Bezug auf die Darstellung des biografischen Hintergrundes machen.

In Dichtung und Wahrheit legte Goethe geschickt eine falsche Fährte, indem er die neuen Verhältnisse, in die er geraten war und die in vermeintlich direktem Zusammenhang mit der Entstehung des Romans genannt werden, ausführlich beschrieb und diese in das Haus der Maximiliane Brentano legte (HA 10,586 ff.) Von Charlotte Buff /Kestner ist an dieser Stelle keine Rede. Doch der windige Argwohn (21.11.1774 an J.C.Kestner, WA IV.2,208) und die Goetheforschung kamen zu dem Schluss, dass Werthers Lotte sich eher in Charlotte Buff als in Maximiliane La Roche/Brentano wiederfinden ließe. Bezüge, die sich zu A.Schönkopf herstellen lassen, werden mitunter nebensächlich erwähnt.

Schaut man genauer auf die überlieferten Briefe aus jener Zeit, ergibt sich ein zusätzliches Bild, in dem Charlotte und Maximiliane lediglich den Rahmen bilden.

Goethe hatte nachvollziehbare Gründe, sich selbst und auch seine Freunde, das Ehepaar Kestner, vor den Nachstellungen einer nicht wohlwollenden Umwelt zu schützen und die Kestners nicht zu erwähnen. Warum allerdings Goethe-Forscher oder jetzt ganz aktuell der Literaturwissenschaftler R. Safranski nicht auf die in den Briefen gemachten Mitteilungen eingehen, ist nicht recht nachvollziehbar.

Fassen wir sehr kurz die Ereignisse zusammen, von denen die vorhergehenden Kapitel der neuen Goethe-Biografie umfänglich berichten: 1768 war Goethe todkrank aus Leipzig zurück gekehrt, nach 1 ½ Jahren Genesungszeit studierte er in Straßburg weiter bis August 1771, dann arbeitete er in Frankfurt am Schöffengericht, bis er im Mai 1772 im Reichskammergericht Wetzlar anfing. 4 Monate später war er wieder in Frankfurt und hatte keine weitere Anstellung übernommen, er arbeitete als Rezensent für die »Frankfurter Gelehrten Anzeigen«, dichtete und versuchte sich als Selbstverleger.

Der Selbstmord des ihm bekannten Karl Wilhelm Jerusalem (im Okt.1772) in Wetzlar mit zwei Pistolen, die sich dieser zuvor von Kestner geborgt hatte, beschäftigte Goethe nachhaltig und wurde Anfang 1774 in dem Roman Die Leiden des jungen Werther verarbeitet. Dazwischen war keine Leidenschaft, die Werthers Qualen nahe gekommen wären. Im Gegenteil. Auch von Lebensekel oder -verdruß konnte jetzt nicht die Rede sein. – Bis scheinbar irgendein emotional aushaltbares Maß überschritten wurde in den Momenten, wo um Goethe herum alles heiratete, Kinder bekam und fortzog… Goethe war zwar frey und liebebedürftig (WA IV.2,44), doch auf eine Liebe hatte er sich nicht eingelassen. An Betty Jacobi hatte er am 31.12.1773 geschrieben: dass ich einigemal auf dem Sprunge gestanden habe mich zu verlieben. Davor doch Gott seye. (WA IV.2,137)

Es gibt viele Hinweise in den primären Briefquellen, die darauf hindeuten, warum Gott davor seye, sich neu zu verlieben. Das dramatische Liebeserlebnis mit Kätchen Schönkopf hatte fast tödlich geendet. Hier sind die eigentlichen Wurzeln für die Leiden des jungen Werther zu suchen: Wir gingen neben einander, an die sechs Jahre ohne uns zu nähern. 1768-1774 Und nun hab ich seiner Geschichte meine Empfindungen geliehen. – Lotte, Maximiliane, Friederike Brion und andere Freundinnen und Freunde waren wichtig für die Genesung der verletzten Seele Goethes und die Erkenntnis: ich muss die Welt lassen wie sie ist, und dem heiligen Sebastian gleich, an meinen Baum gebunden, die Pfeile in den Nerven, Gott loben und preisen. (WA IV.2,196)

Plötzlich finde ich überall Argumente, die meine Sichtweise bestätigen, und ich könnte wohl ein Büchlein damit füllen, warum und wie Goethe mit dem Werther ein Ehrenmal für seine Empfindungen in unsere Herzen setzt.

Röslein sprach: ich steche dich, daß du ewig denkst an mich und ich wills nicht leiden.(1771) Goethe hatte sich mit seinem Werther auf vielfache Weise von seinen sechs Jahre lang weitgehend verdrängten Leiden befreit: Denn wenn du nicht fühlst dass ich dich liebe, warum lieb ich dich? (WA IV.2,151)