Zeitmagazin und Entschleunigung

Im Hauptartikel der letzten Ausgabe des ZEITMAGAZINs von 2014 erklärt Julia Friedrichs: Weg vom Lärm, zurück zu mir selbst. Warum das nicht immer eine gute Idee ist.

Sie umkreist das Thema auf engen und weiten Wegen und findet nicht den Punkt, nach dem sie sucht. Sie befragt die Medienlandschaft, verschiedene Studien, Soziologen, Aussteiger und besucht die erste deutsche Konferenz für Entschleunigung (Slow Living Conference). Sie gehört zu denen, die ihre Slow-Emotion-Magazine in einer Jutetasche davontragen, sich dennoch über die Welt ernsthaft Gedanken machen und viele Fragen stellen.
Die Antworten bleibt sie sich und uns letztlich schuldig, zumal auch der Soziologieprofessor der Freien Universität Berlin Jürgen Kocka die Weltflucht-Zeitschriften lediglich hochinteressant findet als erstaunliche Parallele zum Rückzug des Bürgertums des 19. Jahrhunderts.

Was wollte die Autorin eigentlich mitteilen?
Dass sich die Aussteiger oder die Jugendlichen mit den biederen Sehnsüchten (ein Häuschen mit Garten, eine Familie, ein kleiner Hund) nicht mehr um die raue Restwelt bekümmern, die sie ignorieren oder vor der sie fliehen. Sie beschreibt es als ein weltweit zu findendes Phänomen, einen Megatrend, mit dem sich auch gut Geld verdienen lässt.

Dieses Problem ist komplex und einfach zugleich. Und ein sehr altes ist es auch. Schon der römische Staatsmann Seneca philosophierte im Jahre 49 n. Chr. darüber, als er in seinem Werk De brevitate vitae (lat. Von der Kürze des Lebens) über den richtigen Gebrauch der Lebenszeit nachdachte. Zeit ist genug da, die Menschen, die am lautesten jammern, sie hätten davon nicht genug, verschwenden sie auch am meisten. Unsere Lebenszeit ist kurz, der Tag flüchtig. Darum muß man mit der Schnellebigkeit der Zeit wetteifern durch rasche Benützung derselben, meint der alte Philosoph. Er warnt, dass die meisten, kein stetes Ziel im Auge habend, mit einer irren, sich selbst widersprechenden, sich immer aus sich selbst heraussehnenden Unbeständigkeit von Plan zu Plan umher jagen. Haben oder Sein, was ist das Ziel? Die fast 2000 Jahre alte Schrift ist brandneu.

Der neue Zeitgeist verberge, was eigentlich zählt, erklärt Julia Friedrichs: das Leben vieler Einzelner, die auf erstaunliche Weise ähnlich denken. Dieser Erkenntnis folgt die Beobachtung, dass die ehemaligen Weltverbesserer später häkeln, stricken und nähen, weil die Nähprojekte einen Anfang und ein Ende haben und nützliche Kompetenzen sind, wenn dereinst die Industrialisierung zusammengebrochen sein könnte. Andere sehnen sich nach der Höhle als Reaktion auf eine Arbeitswelt, die ständig antreibt, einfordert, abverlangt. Anders ginge es der Nachkriegsgeneration, die keine Zeit hatte, sich derart mit sich selbst zu beschäftigen, da existentielle Nöte sie bedrängten. Die Autorin wähnt, unsere Welt sei krank, womit sie wieder einen Kreis geschlossen hat.

Doch die modernen Informationsfluten strömen durch die reiche Welt, Julia Friedrichs fragt sich, wer sich eine solche Realitätsverweigerung erlauben kann und warnt, dass die Verweigernden einmal selbst zu denen gehören könnten, die in Lumpen auf der Flucht sind.  Um nun nicht in eine Resignation zu verfallen, schlägt sie vor, wie Luther am Ende der Welt doch noch ein Apfelbäumchen zu pflanzen, allerdings nicht auf der eigenen Scholle.

Irgendwie hat sich etwas Hilfloses zwischen die Zeilen geschlichen, auch etwas Ängstliches, die Dinge beim Namen zu nennen.

Ein klein wenig anders betrachtet, die 2000 Jahre währenden Erkenntnisse nutzend, kommen andere Fragen hinzu. Was bestimmt das Denken der Menschen? Was ist lebenswichtig? Was ist ein sinnerfülltes Leben? Gibt es noch eine Tugend? Welche Funktion hat der Tod?

Was ist daran bieder, mit einer Familie in einem Haus wohnen zu wollen als Ausdruck der Sehnsucht nach Liebe, Freundschaft, Sicherheit und Frieden? Was ist schlecht, wenn das Ergebnis schöpferischer Tätigkeit und die Freude daran der Arbeit wieder ihren Wert verleiht. Was ist daran zu bemängeln, wenn die Muße ihren negativen Beigeschmack verliert, weil durch Beschaulichkeit und Kontemplation noch niemand zu Schaden gekommen ist? Der Rückzug des Diogenes hätte manches gemein mit dem Rückzug in den kleinen Kreis Gleichgesinnter. Leben und leben lassen – ein einfaches Prinzip …
Was stört die Befriedigung der eigentlichen menschlichen Bedürfnisse, für die wir doch all die neue Technik entwickeln?
Wer hat was davon, wenn wir in den Informationsfluten ertrinken, ohne klüger geworden zu sein?
Bestimmt das Sein doch das Bewusstsein, die Verhältnisse, in denen wir leben, unser Handeln und Denken?
Die Menschen in der reichsten aller Welten waren nie ihrer Bestimmung entfernter und näher zugleich: ihre Möglichkeiten zu nutzen, klüger und weiser zu werden, um für sich selbst und für andere zu sorgen, nach einem Einklang mit der Natur strebend.

Ich suche Klärung und Orientierung, sei ein Grund, weshalb junge Erwachsene den Aufmerksamkeitskurs Mindfulness-Based Stress Reduktion aufsuchen. Die unaufgeklärte Generation einer hoch entwickelten Zivilisation, etwas stimmt nicht.
Wir sitzen nicht allein auf einer Scholle und was um uns herum geschieht, vollzieht sich nicht ohne Gesetzlichkeit. Diese zu hinterfragen, zu erkennen, zu nutzen wäre eine sinngebende Hilfe bei der Suche nach Orientierung.

Der Philosoph J.Moser hatte 1829 Senecas Schrift neu übersetzt, die sich hauptsächlich über den weisen Gebrauch der Lebenszeit verbreitet, welcher darin bestehe, daß der höchste Lebenszweck, Wachsthum an Weisheit, erreicht werde. Was daran hindere, das sey eigentlich und wahrhaftig Verlust am Leben.

Es geht um Bewusstwerdung, um verstehen. Allein das Wort ‚Verstehen‘ sagt, wie es geht: ver-stehen, das Gegenteil von ver-laufen. Verstand hat nichts mit Stillstand zu tun, sondern mit Einsicht. Jetzt kann auch das ehrliche kluge Gefühl mitreden und harmonisierend wirken, ohne, dass es im Lärm versinkt. Es ist ein natürlicher Vorgang und die Forschung hat es längst bestätigt: Multitasking bringt Chaos ins Gehirn, besonders ins frontale, wohin unser Zeigefinger automatisch zeigt, wenn es uns zu bunt wird. Das Gehirn arbeitet dann langsamer, wir sind unkonzentrierter und fühlen uns ausgebrannt, weil die Speicher mit den Botenstoffen schneller versiegen, unser Gehirn entschleunigt sich selbst. Niemand kann den zweiten Schritt tun vor dem ersten ohne dabei zu stolpern. Also beantworten wir alle Fragen einzeln und nacheinander, wenn wir global, individuell und gesellschaftlich, denken wollen. Dann wäre auch das Risiko geringer, sich im Urwald der Manipulationen zu verirren. Und bedenken wir immer, dass unser Leben nicht endlos ist.

Es gibt nichts Gutes-außer man tut es. – Bleiben wir wachsam, fragend und aufrichtig.