Sonne, Fußball, warme Nächte und andere leiblich-seelisch-mephistophelische Verführungen erschweren den mentalen Genuss des Lebenskunstwerks auf unwiderstehliche Weise. Vielleicht führt mich ein lustvoller Richtungswechsel noch einmal in die eigenartigen Gegenden des Herrn Safranski, um dort sein Goethebild zu bestaunen, in das der Literaturprofessor Ecken, Kanten und Löcher reingehauen hat.
Goethe ist ein Ereignis der Geschichte des deutschen Geistes – Nietzsche meinte, ein folgenloses. Dieser würde auf den ersten Satz [!] des R. Safranski folgendes sagen: Goethe — kein deutsches Ereigniss, sondern ein europäisches […] Aber man missversteht grosse Menschen, wenn man sie aus der armseligen Perspektive eines öffentlichen Nutzens ansieht. (Götzen-Dämmerung, Streifzüge eines Unzeitgemässen, www.textlog.de/8137.html, Stand 4.6.2014)
Gleich zu Beginn ein großes Mißverständnis des Autors mit Nietzsche, über den er auch eine Biografie verfasst hat, für die er gelobt wurde und für die er als ein Bestandteil seines Lebenswerkes mit dem Thomas-Mann-Preis 2014 geehrt wird. Seit drei Jahrzehnten leistet der Autor glänzender Monografien eindringliche Erinnerungsarbeit, die einer großen Leserschaft die Begegnung und Auseinandersetzung mit dem philosophischen und literarischen Erbe der deutschen Geistesgeschichte ermöglicht, heißt es in der Begründung. Das ist ein schöner Anspruch und der verdient einen Preis, Glückwunsch.
Du wirst grosen Teil nehmen an dem Leiden des lieben Jungen den ich darstelle. Wir gingen neben einander, an die sechs Jahre ohne uns zu nähern. Und nun hab ich seiner Geschichte meine Empfindungen geliehen und so machts ein wunderbaares Ganze, versicherte Goethe im Frühjahr 1774 seinem neuen Freund Lavater. (WA IV.2, 156)
In diesem Beitrag möchte ich einige Bemerkungen zur Werther-Rezeption in Bezug auf die Darstellung des biografischen Hintergrundes machen.
In Dichtung und Wahrheit legte Goethe geschickt eine falsche Fährte, indem er die neuen Verhältnisse, in die er geraten war und die in vermeintlich direktem Zusammenhang mit der Entstehung des Romans genannt werden, ausführlich beschrieb und diese in das Haus der Maximiliane Brentano legte (HA 10,586 ff.) Von Charlotte Buff /Kestner ist an dieser Stelle keine Rede. Doch der windige Argwohn (21.11.1774 an J.C.Kestner, WA IV.2,208) und die Goetheforschung kamen zu dem Schluss, dass Werthers Lotte sich eher in Charlotte Buff als in Maximiliane La Roche/Brentano wiederfinden ließe. Bezüge, die sich zu A.Schönkopf herstellen lassen, werden mitunter nebensächlich erwähnt.
Schaut man genauer auf die überlieferten Briefe aus jener Zeit, ergibt sich ein zusätzliches Bild, in dem Charlotte und Maximiliane lediglich den Rahmen bilden.
Goethe hatte nachvollziehbare Gründe, sich selbst und auch seine Freunde, das Ehepaar Kestner, vor den Nachstellungen einer nicht wohlwollenden Umwelt zu schützen und die Kestners nicht zu erwähnen. Warum allerdings Goethe-Forscher oder jetzt ganz aktuell der Literaturwissenschaftler R. Safranski nicht auf die in den Briefen gemachten Mitteilungen eingehen, ist nicht recht nachvollziehbar.
Fassen wir sehr kurz die Ereignisse zusammen, von denen die vorhergehenden Kapitel der neuen Goethe-Biografie umfänglich berichten: 1768 war Goethe todkrank aus Leipzig zurück gekehrt, nach 1 ½ Jahren Genesungszeit studierte er in Straßburg weiter bis August 1771, dann arbeitete er in Frankfurt am Schöffengericht, bis er im Mai 1772 im Reichskammergericht Wetzlar anfing. 4 Monate später war er wieder in Frankfurt und hatte keine weitere Anstellung übernommen, er arbeitete als Rezensent für die »Frankfurter Gelehrten Anzeigen«, dichtete und versuchte sich als Selbstverleger.
Der Selbstmord des ihm bekannten Karl Wilhelm Jerusalem (im Okt.1772) in Wetzlar mit zwei Pistolen, die sich dieser zuvor von Kestner geborgt hatte, beschäftigte Goethe nachhaltig und wurde Anfang 1774 in dem Roman Die Leiden des jungen Werther verarbeitet. Dazwischen war keine Leidenschaft, die Werthers Qualen nahe gekommen wären. Im Gegenteil. Auch von Lebensekel oder -verdruß konnte jetzt nicht die Rede sein. – Bis scheinbar irgendein emotional aushaltbares Maß überschritten wurde in den Momenten, wo um Goethe herum alles heiratete, Kinder bekam und fortzog… Goethe war zwar frey und liebebedürftig (WA IV.2,44), doch auf eine Liebe hatte er sich nicht eingelassen. An Betty Jacobi hatte er am 31.12.1773 geschrieben: dass ich einigemal auf dem Sprunge gestanden habe mich zu verlieben. Davor doch Gott seye. (WA IV.2,137)
Es gibt viele Hinweise in den primären Briefquellen, die darauf hindeuten, warum Gott davor seye, sich neu zu verlieben. Das dramatische Liebeserlebnis mit Kätchen Schönkopf hatte fast tödlich geendet. Hier sind die eigentlichen Wurzeln für die Leiden des jungen Werther zu suchen: Wir gingen neben einander, an die sechs Jahre ohne uns zu nähern. 1768-1774 Und nun hab ich seiner Geschichte meine Empfindungen geliehen. – Lotte, Maximiliane, Friederike Brion und andere Freundinnen und Freunde waren wichtig für die Genesung der verletzten Seele Goethes und die Erkenntnis: ich muss die Welt lassen wie sie ist, und dem heiligen Sebastian gleich, an meinen Baum gebunden, die Pfeile in den Nerven, Gott loben und preisen. (WA IV.2,196)
Plötzlich finde ich überall Argumente, die meine Sichtweise bestätigen, und ich könnte wohl ein Büchlein damit füllen, warum und wie Goethe mit dem Werther ein Ehrenmal für seine Empfindungen in unsere Herzen setzt.
Röslein sprach: ich steche dich, daß du ewig denkst an mich und ich wills nicht leiden.(1771) Goethe hatte sich mit seinem Werther auf vielfache Weise von seinen sechs Jahre lang weitgehend verdrängten Leiden befreit: Denn wenn du nicht fühlst dass ich dich liebe, warum lieb ich dich? (WA IV.2,151)
Gestern machte das mir die Welt zur Hölle, was sie mir heute zum Himmel macht. Hier werden wir Zeuge des Vorgangs, wie aus dem Fluß des enthemmten Schreibens ein bedeutungsvoll glänzender Satz emporsteigt, um dann im inneren Archiv für spätere literarische Verwendung aufbewahrt zu werden, findet Herr Safranski heraus, denn dieser Satz würde als geflügeltes Wort im Werther wiederkehren.
R. Safranski gibt nicht an, in welchem Brief der junge Werther das schreibt. Der vollständige Text dieses Zitates aus einem Brief an Behrisch vom 11.11.1767 scheint mir weniger ein Hinweis auf einen emporsteigenden glänzenden Satz zu sein: Gestern machte das mir die Welt zur Hölle, was sie mir heute zum Himmel macht – und wird so lange machen, bis es mir sie zu keinem von beyden mehr machen kann. (WA IV.1,141) Hier werden wir Zeuge, dass diese Leidenschaft Goethe an seine körperlichen und mentalen Grenzen führen wird und weniger in einem Satz endet, der in einem inneren Archiv aufbewahrt werden soll für spätere literarische Verwendung.
Ein Jahr zuvor hatte Goethe seine verworrenen Umstände seinem Freund Moors mitgeteilt: […] was hat alsdenn meine Liebe für eine schechtenswürdige Seite? Was ist der Stand? Eine eitle Farbe die die Menschen erfunden haben, um Leute die es nicht verdienen mit anzustreichen. Und Geld ist ein ebenso elender Vorzug in den Augen eines Menschen, der denkt. Ich liebe ein Mädgen, ohne Stand und ohne Vermögen, und jetzo fühle ich zum allererstenmale das Glück das eine wahre Liebe macht. Ich habe die Gewogenheit meines Mädchens nicht denen kleinen elenden Trakasserien des Liebhabers zu danken, nur durch meinen Charakter, nur durch mein Herz habe ich sie erlangt. Ich brauche keine Geschenke um sie zu erhalten […] Das fürtreffliche Herz meiner S. ist mir Bürge, daß sie mich nie verlassen wird, als dann wenn es uns Pflicht und Nothwendigkeit gebieten werden uns zu trennen. Solltest du nur dieses fürtreffliche Mädchen kennen, bester Moors, du würdest mir diese Thorheit verzeihen, die ich begehe, indem ich sie liebe. Ja sie ist des größten Glücks werth, das ich ihr wünsche, ohne jemals hoffen zu können etwas dazu beyzutragen. (WA IV.1,60 f.)
Diese anfänglich vor seinen Freunden geheim gehaltene Liebe hatte Goethe seiner Schwester gegenüber wie nebenbei erst am 11.5.1767 erwähnt: la petite Schoenkopf. (WA IV.1,86) Goethe erlebte die Zustände zwischen himmelhoch jauchzend und zum Tode betrübt nicht schreibend als einen zusätzlichen Kitzel. Der 18-Jährige hatte nur seinen älteren Freund Behrisch, dem er sich offenbarte, doch dieser antwortete in immer größer werdenden Abständen. Goethe musste irgendwie selbst damit fertig werden.
Nach der Beendigung dieser schwebenden Pein im April 1768, schien er erleichtert: Es war ein schröcklicher Zeitpunckt bis zur Erklärung, aber sie kam die Erklärung und nun – nun kenn ich erst das Leben. Sie ist das beste, liebenswürdigste Mädgen, nun kann ich dir schwören, daß ich nie nie aufhören werde das für sie zu fühlen was das Glück meines Lebens macht […] Wir haben mit der Liebe angefangen und hören mit der Freundschaft auf. Doch nicht ich. Ich liebe sie noch, so sehr, Gott so sehr. (an Behrisch,WA IV.1,159)
Einen Monat zuvor hatte Goethe noch geschrieben: […] ich kann ich will das Mädgen nie verlassen, und doch muss ich fort, doch will ich fort; Aber sie soll nicht unglücklich seyn. Wenn sie meiner wehrt bleibt, wie sie’s jetzt ist! Behrisch! Sie soll glücklich seyn. Und doch werd‘ ich so grausam seyn, und ihr alle Hoffnung benehmen. Das muss ich. Denn wer einem Mädgen Hoffnung macht, der verspricht. Kann sie einen rechtschaffnen Mann kriegen, kann sie ohne mich glücklich leben, wie fröhlich will ich seyn. Ich weiß was ich ihr schuldig bin, meine Hand und mein Vermögen gehört ihr, sie soll alles haben, was ich ihr geben kann. Fluch sey auf dem, der sich versorgt eh das Mädgen versorgt ist, das er elend gemacht hat. Sie soll nie die Schmerzen fühlen, mich in den Armen einer andern zu sehen, bis ich die Schmerzen gefühlt habe, sie in den Armen eines andern zusehen, und vielleicht will ich sie auch da mit dieser schröcklichen Empfindung verschonen. (WA IV.1,157)
Dass diese Verwirrung an die Substanz gehen mußte, weil sich hier keine Lösung anbot, zeigen die vagen Andeutungen eines gefühlten Sterbens, auch in dem sehr kurzen Brief an Behrisch vom Mai 1768: ich gehe nun täglich mehr Bergunter. 3 Monate noch Behrisch, und darnach ist’s aus. Gute Nacht ich mag davon nichts wissen. (WA IV.1,160)
Die lebensgefährliche Krankheit kam Ende Juli 1768 mit einem Blutsturz. In Dichtung und Wahrheit bekannte Goethe: so schwankte ich mehrere Tage zwischen Leben und Tod, und selbst die Freude an einer erfolgenden Besserung wurde dadurch vergällt, daß sich, bei jener Eruption, zugleich ein Geschwulst an der linken Seite des Halses gebildet hatte, den man jetzt erst, nach vorübergegangener Gefahr, zu bemerken Zeit fand. Genesung ist jedoch immer angenehm und erfreulich, wenn sie auch langsam und kümmerlich vonstatten geht, und da bei mir sich die Natur geholfen, so schien ich auch nunmehr ein anderer Mensch geworden zu sein: denn ich hatte eine größere Heiterkeit des Geistes gewonnen, als ich mir lange nicht gekannt, ich war froh, mein Inneres frei zu fühlen, wenn mich gleich äußerlich ein langwieriges Leiden bedrohte. (HA 9,330 f.)
Dies habe ich ausführlich berichtet, weil es ein eindeutigeres Licht auf eine Zeugenschaft wirft, als ein glänzender Satz, den der Biograf für so bedeutend hielt. Diese Liebesgeschichte sollte nachhaltig auf Goethe wirken. Dass es sich bei Werthers Lotte nicht um jene Lotte Buff/Kestner handeln wird, ist unzweifelhaft…. Denn seinen Werther schrieb Goethe nicht mit heiler Haut, wie er später zugab.
Damit beende ich dieses Kapitel, nicht ohne zu bemerken, dass es mich doch einigermaßen befremdet, wie locker, um nicht zu sagen: unklar der Literaturwissenschaftler mit seinem gewählten Stoff umgeht. Die im ersten Kapitel gemachten Andeutungen hat er übrigens nicht wieder aufgenommen, und die heikle Beziehung zu seiner Schwester steht nach wie vor im Raum. Das wäre doch einen professoralen Kommentar wert gewesen, denn K.R.Eisslers zweibändiges Werk zu diesem Thema wird im Literaturverzeichnis angeführt. Den entstandenen Eindruck einer gestörten Mutter-Sohn-Beziehung möchte ich allerdings bis zu dieser Zeit entkräften:
Quelle: www.lesung.podspot.de/post/56-johann-wolfgang-von-goethe-an-meine-mutter
…von Langer mit ein wenig Himmelstrost versehen, verläßt er Leipzig. Ein trauriger Student ohne Abschluß. Mit dieser Zusammenfassung beendet R. Safranski das Kapitel zu Goethes Studium in Leipzig. – Das klingt nach einem großen Scheitern.
Dabei erfahre ich, dass der Student auf großem Fuße lebte, wie ein närrischer Goût gekleidet war, sehr gutes Essen hatte, zusätzlich zu den Jura-Vorlesungen auch die damals anerkannten Literaturprofessoren aufsuchte, Gedichte schrieb und sein freies Leben genoss, dass er Wert legte auf eine eindrucksvolle Schauseite und auftrumpfte, weil er hier im fremden, auch mondänen Leipzig seinerseits gegen die Einschüchterung anzukämpfen hatte. Der Autor zitiert diesen [einschüchterungsgefährdeten] Studenten aus einem Brief an seine Schwester: Ich habe etwas mehr Geschmack und Kenntniß vom Schönen, als unsere Galanten Leute und ich konnte nicht umhin ihnen oft in großer Gesellschaft, das armselige von ihren Urteilen zu zeigen.
Erst einmal bis hierher. Goethes Studienzeit in Leipzig umfasste den Zeitraum vom Oktober 1765 bis August 1768. Dass Goethe vom Vater mit einem Monatswechsel von hundert Gulden (soviel verdiente ein tüchtiger Handwerker im Jahr) versorgt wurde, bleibt ohne Angabe der Quelle, so dass ich annehmen kann, R. Safranski hat diesen Hinweis von Wilhelm Bode übernommen, der diesen als Fußnote zu einem Brief von Johann Adam Horn an Wilhelm Carl Ludwig Moors (beides Jugendfreunde von Goethe) angefügt hatte. Der ebenfalls in Leipzig studierende Horn berichtete am 3.10.1766: Er hat […] mir seine Ökonomie entdeckt und gezeigt, daß der Aufwand, den er macht, nicht so groß ist, wie man glauben sollte. (W.Bode, Goethe in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen,I,12) Goethe selbst – wenn man seine Aussage in seinem Brief an den Freund Johann Jacob Riese als eine primäre Quelle gelten lässt – schrieb dazu: Und ich werde recht menageus leben. Da hoffe ich des Jahrs mit 300 was sage ich mit 300 mit 200 Rthr. auszukommen. […] Ich habe kostbaren Tisch. […] Und die Herrlichkeiten nicht teuer, gar nicht teuer. (10.10.1765, WA IV.1,15) Es ist von Reichstalern die Rede. Davon hat er also zwischen 17 und 25 Rt. monatlich zur Verfügung. Um einen Eindruck von dem Wert zu bekommen, habe ich ihn mit dem im Internet angegebenen Kaufkraftwert von 1967 verglichen: das wären in etwa 590 bis 880 DM im Monat gewesen, was grob gerechnet dem Durchschnittsgehalt von 1967 entsprochen hätte. Im Falle der angenommenen 100 Gulden wären 2.330 DM im Monat zusammen gekommen. Da ich der primären Quelle eher vertraue, als einer nicht näher bezeichneten Fußnote, würde ich den Angaben, die Goethe gemacht hat, glauben, zumal Ausgaben in dieser Höhe denen eines Studenten auch entsprechen können. Das Essen war offenbar preiswerter als gedacht, daher konnte der Studierende so menageus leben.
Goethe ließ sich auch nicht dadurch einschüchtern, dass man ihn für einen in der Gesellschaft überflüssigen Menschen hielt, mit dem nichts anzufangen ist, weil er dem Kartenspiel kein großes Vergnügen abgewinnen konnte. (WA IV.1,81) Dagegen setzte ihm die unfaire Art des Umganges mit seinen Dichtungen durch Freunde und Lehrer zu. Jedoch nur zeitweise, denn bald hatte er sich von den Vor-Urteilen jener gelöst und einen Umweg gefunden, seine Gedichte zu zeigen, durch eine ihn vor destruktiver Kritik schützende Anonymität. Der 17-Jährige war auf der Suche nach seiner eigentlichen Bestimmung. Dass am Ende seine Zweifel und Rückschläge keine Macht über ihn bekamen, wissen wir, doch damals mussten die Konflikte oft größer gewesen sein, als wir es uns vorstellen.
R. Safranski beschreibt recht ausführlich verschiedene Lehrkräfte, wie Gellert, Gottsched, Oeser. Darauf möchte ich hier nicht eingehen. Betrachtenswert erscheint mir allerdings, wie der Autor den Anspruch Goethes auf seine poetische Selbstbildung sieht: der junge Goethe war schon versiert in der Handhabung der Formen, aber er wußte inzwischen auch, daß man sie mit eigenem Leben erfüllen mußte. [….] es muß auch ein Erlebnisstoff hinzukommen, der die Kunst der sprachlichen Darstellung herausfordert. Diesen Erlebnisstoff lieferte die Liebesgeschichte mit der drei Jahre älteren Anna Katharina Schönkopf, für die der Student nach wenigen Tagen entflammt war. Der Autor meint weiter, Goethe schwelge nicht in Liebesgefühlen, um darüber schreiben zu können, doch sie bekommen einen zusätzlichen Kitzel, indem er darüber schreibt. Und so kommt der Biograf zur Überzeugung, Goethe durchlebe eine Geschichte, zu der es aber gehört, daß sie erst in ihrer lustvollen Versprachlichung zu ihrer vollen Wirklichkeit gelange.
Ich weiß nicht welche pysychoanalytischen Urteilskräfte hier zum Ansatz kamen, doch einiges scheint fragwürdig. Es ist die Frage, ob Goethe ein Erlebnis wie z.B. eine (un)glückliche Liebe zwar nicht gesucht habe, um sie in Sprache zu überführen, was er dann aber doch machte, weil er sich schreibend zusätzliche Kitzel verschaffen konnte, oder um seine Stanzen mit Leben zu erfüllen und weil erst so die Kunst der sprachlichen Darstellung herausgefordert sei. Hier stimmt das Bedingungsgefüge nicht.
Doch werde ich den Eindruck nicht los, dass Herr Safranski gerade darauf sein Werk aufbaut, indem er in Goethe den Poeten und den Künstler sucht, der in erster Linie beabsichtigte, sich als Dichter zu vervollkommnen, sich geistig zu bilden und der das Erlebte seinem schöpferischen Tätigsein entsprechend unterordnete, um es in eine Form zu bringen und damit bewahren zu können.
Freilich nennt es der Autor einen verwickelten Vorgang, doch hat er sich entschieden, das dichterische Werk Goethes weniger als das Ergebnis einer gelungenen Verarbeitung innerer Stürme, Zweifel, Leiden oder erlebter Glücksmomente zu betrachten, sondern als einen sich immer mehr verselbständigenden Prozess geistigen Schaffens. Damit ist er in der Tradition all jener, die glauben, biografische Ereignisse hätten kaum oder nur geringen Einfluss auf die Werke Goethes gehabt.
Hier wird die Kreativität Goethes von seiner emotionalen und vitalen Verfassung abgetrennt, so dass sich das dichterische Werk nun losgelöst vom seinem Schöpfer verallgemeinern, wissenschaftlich untersuchen und einordnen lassen kann.
Oder wie es R.Safranski in der sich widersprechenden Konsequenz seiner Gedanken sagt: eine Geschichte wird erst zur einer vollen Wirklichkeit, wenn sie lustvoll versprachlicht wurde. Das Erlebnis gehöre wohl dazu, doch sei es ohne die lustvolle Sprache unvollkommen. So meinte er es doch, oder? Bleibt uns nicht so dichterisch Talentierten also versagt, eine Geschichte in ihrer vollen Wirklichkeit zu erleben? Was nutzt uns dann die kunstvoll dauerhafte Spur eines Herrn Goethe? Doch mir kann er nicht weismachen, dass selbst die lustvollste Sprache schöner sei als das wirkliche Erleben selbst.
In einem von Sulpiz Boisserée aufgezeichnetem Gespräch hatte sich der 66-jährige Goethe zur Wirkung des Erlebten geäußert: es sei nicht leicht eine Begebenheit, worüber er sich nicht in einem Gedicht ausgesprochen. So habe er seinen Ärger, Kummer und Verdruß über die Angelegenheiten des Tages, Politik u.s.w. gewöhnlich in einem Gedicht ausgelassen, es sei eine Art Bedürfniß und Herzenserleichterung, Sedes p. Er schaffe sich so die Dinge vom Halse, wenn er sie in ein Gedicht bringe. (Goethe-Gespräche,III,208)
Herr Safranski erkennt die Funktion der dichterischen Tätigkeit für Goethe, wenn er ihn zitiert: Selbstbildung durch Verwandlung des Erlebten in ein Bild. Er sieht darin allerdings nur Form gewordenes Erleben, eine durch das künstlerische Schaffen dauerhaft bewahrte Spur. Das entspricht in meinem Verständnis allerdings nicht dem ursprünglichen Antrieb für das dichterische Tun Goethes.
Wir haben in Goethe einen hochsensitiven, emotionalen und intelligenten Menschen, der sein großes dichterisches Talent benutzen konnte, sein inneres Chaos zu ordnen, indem er es sich durch die Sprache bewusst machen konnte. Sein Gedicht, seine künstlerische Arbeit, ist das veräußerte Ergebnis einer Verarbeitung und Intergration des Erlebten, es ist mehr als die Zusammenfassung des Geschauten oder Erfahrenen. In diesem Sinne wirkt es selbsttherapeutisch oder besser: selbstbildend.
Ich hätte schon noch einige Gedanken über das in Form gebrachte, dauerhaft bewahrte – gerettete – Erlebnis. Dieser Leitgedanke scheint die Biografie von R.Safranski zu durchziehen und bekommt den Charakter eines Schwerpunktes in Goethes Leben. Hier ergibt sich die Frage, wie sich der Schwerpunkt eines Lebens focussiert, wie er sich finden lässt. Sicher ist er nicht das Ergebnis einer subjektiven Betrachtungsweise, sondern die Summe seiner Wirkungen auf das Leben selbst, die von diesem Zentrum ausgehen. Oder anders: der Schwerpunkt, um den das Leben Goethes kreiste, ist natürlich nicht abhängig von der Sichtweise seines Biografen. Dieser Wesenskern bestimmt sich selbst durch die objektiven Bedingungen, durch die er entstanden ist und seine Wikung entfaltet – also durch die genetisch festgelegten Fähigkeiten und Möglichkeiten einerseits und die vorhandenen Umstände, in denen sich jene Fähigkeiten ausprägen, andererseits. Der gerettete, weil geformte Augenblick als erstrebter Lebensmittelpunkt scheint problematisch, weil er die Dynamik ausschließt, eine Entwicklung beendet. Es geht doch nicht darum, ein Erlebnis zu retten, dauerhaft zu formen oder zu bewahren, insbesondere wenn es in uns Ängste und Grauen ausgelöst hat, sondern immer nur darum, diesen Wesenskern zu schützen und zu entfalten, indem wir die verschiedenen Erlebnisse verarbeiten – um vernünftig und lustvoll zugleich leben zu können.
Vielleicht hat sich der Literaturprofessor etwas undeutlich mitgeteilt, und ich missverstehe ihn einfach nur ?
Ist es nicht merkwürdig, dass mir jetzt Goethes Gedicht Dauer im Wechsel einfällt ?
Bernd Dietzel erzählt in seinem überaus lebendigen Buch das Leben von Goethes aufopferungsvollem Wegbegleiter auf anschauliche Weise neu, verspricht der Klappentext, eines sehr ansprechend gestalteten 96-seitigen Buches mit farbigen Abbildungen.
Wie ein früher Vorfahr Kafkas suchte Eckermann seinem Übervater etwas zu beweisen, was der immer aufs Neue nur lässig einkassierte. Eckermann reiht sich damit ein in die Tradition jener tragischen Charaktere, an deren Beginn Telemachos, der Sohn des Odysseus, und an deren bisherigem Ende symbolhaft Franz Kafka steht: Menschen, die nicht wirklich dazugehören, weil die Gesellschaft sie und ihresgleichen nicht für wert hält, und die sich selbst ausschließen, weil ihre geheimen Sehnsüchte unerfüllt bleiben müssen, beurteilt der Autor am Ende seines Buches des Eckermanns Leben für Goethe. Diese weit gespannte Traditionsreihe ist – neu.
B.Dietzel erzählt die Lebensgeschichte des Johann Peter Eckermann anschaulich und auch lebendig, jedem Kapitel ist ein passendes Zitat vorangestellt.
Nur neu ist sie nicht, denn der Autor kommentiert sie wie alle Biografen vor ihm nach dem bekannten Muster: der arme Eckermann, der vom padrone Goethe für seine Interessen souverän benutzte Diener, der kompetente Domestik in einem Haus, in dem Goethe saß wie in Baumwolle eingesponnen und seine Bedeutung pflegte. Noch ein Satz zur üblichen Sicht auf Goethe als dem egoistischen Vater: Er hat Eckermann ausgenutzt, ihn gebildet und so für sich brauchbar gemacht, er hat ihn, dass er in Weimar bliebe, erpresst, konsequent zu seinen Zwecken benutzt, und er hat Eckermann damit glücklich gemacht. Dieser merkwürdige Widerspruch wird zu einer Tatsache, die nicht weiter befragt wird und die ein bizarres Licht auf ein vermeintlich skurriles Verhältnis zwischen einem unehrenhaften Herrn und seinem verschrobenen Diener wirft.
Es ist schade, dass auch diesmal keine neue, d.h. unbefangene Betrachtung dieses eigenartigen, ehrgeizigen jungen Mannes, erfolgt. Denn bei etwas genauerer Betrachtung der Verhältnisse und Umstände könnte sich auch ein anderes Bild herstellen, das sich bei kritischer Offenheit für die Brüche und Unstimmigkeiten im Leben des Herrn Eckermann bereits ankündigt. Freilich müsste auch die zeitgeschichtlich begründete Anti-Haltung gegen Goethe geprüft werden. Das wär doch noch mal eine Aufgabe….
(Edition ABFischer, 1.Aufl., 2014)
Ich kann es nicht leugnen, daß ich ihn oft und gern gesehen habe; aber ich habe ihn immer als ein Kind betrachtet und meine Neigung zu ihm war wahrhaft schwesterlich, zitiert R. Safranski die Aussage von Gretchen, der ersten Liebe des Johann Wolfgang, und kommentiert weiter: der Verliebte empfand das als eine solche Kränkung, daß er darüber krank wurde. Er konnte kaum mehr schlucken und steigerte sich in Weinen und Rasen hinein.
Bei Goethe heißt es: […] daß sie mich für ein Kind zu den Akten erklärt, nahm ich ganz entsetzlich übel, und glaubte mich auf einmal von aller Leidenschaft für sie geheilt, ja, ich versicherte hastig meinen Freund, daß nun alles abgetan sei! […] Ich ermannte mich wirklich, und das erste, was sogleich abgetan wurde, war das Weinen und Rasen, welches ich nun für höchst kindisch ansah. Ein großer Schritt zur Besserung! (HA 9,220f.)
Die enttäuschende Zurückweisung Gretchens machte ihn also nicht krank, sondern gesund. Tatsächlich krank geworden war Johann Wolfgang vorher durch eine Situation, in die er unschuldig hinein geraten war und durch die daraus entstandenen unlösbaren Konflikte: (vermeintliche) Freunde verraten zu müssen, Gretchen darin verwickelt zu sehen und das Geheimnis um die sich gerade entwickelnde Leidenschaft zu dem älteren Mädchen vor der Aufdeckung bewahren zu wollen.
Die dramatische Geschichte der ersten Liebe erzählt Goethe eindrucksvoll im 5. Kapitel von Dichtung und Wahrheit, eingepackt in die Beschreibung der alle Einwohner Frankfurts in höchste Erregung versetzenden Krönungsfeierlichkeiten für den römisch-deutschen König Joseph II am 3. April 1764. (Joseph II war der Sohn von Maria Theresa und Franz I. Nach dem Tod des Vaters 1765 wurde er Kaiser des Heiligen Römischen Reiches.) Johann Wolfgang Goethe war da 14 Jahre alt. Es gibt keinen Grund, die Glaubhaftigkeit zu bezweifeln, weil es keine weiteren Quellen dazu gäbe. Dass Goethe keine Namen nennt, ergibt sich aus der Geschichte selbst, denn es war anzunehmen, dass jene Jugendfreunde von Stande (HA 9,218) zu dem Zeitpunkt des Aufschreibens noch lebten und auch nicht nachträglich in Misskredit geraten sollten. Dass diese erste ganz unschuldige Liebe ihre lebenslange Wirkung nicht verlieren wird, sollte ein aufmerksamer Biograf gewiss entdecken.
R. Safranski meint nun, dass die Gretchen-Geschichte ihn aus sich selbst herausgesetzt hatte, und dass es mit dem noch halb kindlichen, naiven Selbstvertrauen vorbei war, da sich Johann Wolfgang jetzt beobachtet fühlte. Noch einmal: nicht die Gretchen-Geschichte hat diesen hypochondrischen Dünkel (vgl.HÁ 9,222) verursacht, sondern der damit verbundene Gaunerstreich der vermeintlichen Freunde.
Nun führt R. Safranski ein charakteristisches Vorkommnis an, das den Verlust von Unmittelbarkeit und der bedrängenden Erfahrung von Fremd- und Selbstbeobachtung begründen soll, indem er Goethe selbst seine drei Fehler nennen lässt: als erstes sein cholerisches Temperament, er sei aufbrausend doch nicht nachtragend, zweitens befiehlt er gerne, aber wo ich nichts zu sagen habe, da kann ich es auch bleiben lassen. Drittens seine Unbescheidenheit; er rede auch mit unbekannten Leuten so als kennte er sie schon Hundert Jahre. Dass diese in einem Brief an L.v. Buri gemachten Aussagen vom 23.5.1764 nicht von jenem gestörtem Selbstvertrauen zeugen, erschließt sich von selbst. (vgl. WA IV.1,1-4)
Nach R. Safranski hatte sich der an der Gretchen-Geschichte noch leidende Goethe mit Hilfe eines die Philosophie lehrenden Hauslehrers aus dieser Gefühlslage zu befreien versucht, denn eine Selbstbestätigung hatte er jetzt nötig, die sich dadurch eingestellt habe, dass Goethes Stolz herausgefordert war, beweisen zu wollen, daß er in solche Philosophen einzudringen fähig war. Wer in der primären Quelle nachschaut, wird lesen, dass weniger die Philosophie, sondern die Erfahrung einer ungestörten Einsamkeit in und mit der Natur heilsame Gefühle und Gedanken in dem Jugendlichen weckte.
Die Sichtweise des R.Safranski erlaubt nicht den Schluß, dass Goethes Erkenntnis aus jener Zeit sein weiteres Leben bestimmen wird: Der Hauslehrer hätte mir nur sagen dürfen, daß es im Leben bloß aufs Tun ankomme, das Genießen und Leiden finde sich von selbst. (HA 9, 222) Damals erfühlte der knapp 15-Jährige: es ist keine schönere Gottesverehrung als die, zu der man kein Bild bedarf, die bloß aus dem Wechselgespräch mit der Natur in unserem Busen entspringt! (HA 9,223) Somit war die Gretchen-Geschichte eine äußerst wertvolle Erfahrung, die Goethe zu neuer Wahrnehmung und tieferen Einsicht geführt hatte. – Ganz im Sinne jenes ersten mystischen Satzes…
Der Literaturwissenschaftler beendet sein erstes Kapitel mit dem Hinweis auf das »Mariage-Spiel«, das dem neugierig verspieltem Geist Goethes entgegen gekommen sei: So konnte er nach der unerfreulichen Gretchen-Geschichte noch eine Weile tändeln und üben und den Ernstfall in Liebesdingen, und nicht nur dort, hinausschieben, was er auch nannte: den gemeinen Gegenständen eine poetische Seite abzugewinnen.
Vielleicht zur Information: das Mariagespiel (HA 10,72) steht nicht im Zusammenhang mit den hier gemachten Ereignissen, es fällt in das Jahr 1775, und das angeführte Zitat entstammt einem anderen Kontext aus der Zeit um 1764. (HA 9.237)
Irgendwie befürchte ich auf einmal, dass mich weder »Goethekenner« noch Safranskiverehrer mögen werden, wenn ich so weiter mache. – Ich habe mich übrigens auch bei der Goethe-Gesellschaft nach einem Kommentar zum Kunstwerk des Lebens erkundigt und wurde diesbezüglich auf die Erscheinung des neuen Goethe-Jahrbuchs im Juli verwiesen. Vielleicht rege ich mich ja ganz umsonst auf oder sehe alles viel zu komplex. Sollte ich das zweite Kapitel noch lesen, werde ich wohl wieder nicht an mich halten können…
Das Erste Kapitel ist voller komplexer Andeutungen, Vorgriffe in kommende Lebensereignisse, deren Ursachen teilweise in der Kinder- und Jugendzeit gesucht werden, wobei psychoanalytische Überlegungen von Sigmund Freud unkommentiert übernommen und entsprechend bestätigt werden.
Eigene Akzente zu setzen, indem bestimmte Situationen besonders beleuchtet werden, ist interessant und scheint auch das Anliegen von R. Safranski zu sein. Dass er dabei eigenwillig zu Werke geht, kann anregend sein.
Dennoch sollten die Nuancen nicht zu falschen Urteilen führen, weil die Tatsachen ungenau berichtet, recherchiert oder der eigenen Sichtweise angepasst werden.
Beispielsweise kommt der Autor zu dem Schluss, Goethe habe als Kind einmal Töpferwaren auf die Straße geworfen, weil er die Aufmerksamkeit der Mutter nicht mit Geschwistern teilen wollte. Nach Sigmund Freud, sei das Zerdeppern von Porzellan Ausdruck einer Tötungsphantasie: die lästigen Konkurrenten um die Aufmerksamkeit der Mutter sollten verschwinden. Daher Wolfgangs geringe Betrübnis beim Tode des jüngeren Bruders. Der Autor teilt die Meinung Sigmund Freuds und fasst zusammen: Gewiß war Goethe der Liebling der Mutter und konnte daraus ein starkes Selbstgefühl entwickeln. R. Safranski meint, dass diese Episode als eine Art Urszene für ein Lebensthema nachhaltig auf Johann Wolfgang gewirkt habe. Denn dieser wird später immer wieder davor warnen, sich von den Publikumsinteressen zu sehr beirren und bestimmen zu lassen. – Starke Assoziationslinien.
Goethe selbst berichtet darüber gleich zu Beginn seines ersten Kapitels in Dichtung und Wahrheit: An einem schönen Nachmittag, da alles ruhig im Hause war, trieb ich im Geräms mit meinen Schüsseln und Töpfen mein Wesen, und da weiter nichts dabei herauskommen wollte, warf ich ein Geschirr auf die Straße und freute mich, daß es so lustig zerbrach. Die von Ochsenstein, welche sahen, wie ich mich daran ergetzte, daß ich so gar fröhlich in die Händchen patschte, riefen: »Noch mehr!« Ich säumte nicht, sogleich einen Topf, und auf immer fortwährendes Rufen: »Noch mehr!« nach und nach sämtliche Schüsselchen, Tiegelchen, Kännchen gegen das Pflaster zu schleudern. […] so stürzte ich alles, was ich von Geschirr erschleppen konnte, in gleiches Verderben. Nur später erschien jemand, zu hindern und zu wehren. Das Unglück war geschehen, und man hatte für so viel zerbrochene Töpferware wenigstens eine lustige Geschichte, an der sich besonders die schalkischen Urheber bis an ihr Lebensende ergetzten. (HA 9.11f.)
Was Freud u.a. dahinein interpretierten wissen wir bereits. Was stellt sich aber dar? Johann Wolfgang muß noch recht klein gewesen sein: Für uns Kinder, eine jüngere Schwester und mich, heißt es kurz vorher – und von Händchen patschen ist die Rede. Diese Episode trug sich daher möglicherweise noch vor der Geburt des 3. Geschwisterchen Hermann Jacob im November 1752 zu. Goethe war 3 Jahre und die Schwester 2 Jahre alt. Der Junge war allein in diesem Raum, er langweilte sich und warf das Geschirr schließlich fort, was ihm Spaß machte, da es geräuschvoll verschwand und er nun auch nicht mehr allein war, also Aufmerksamkeit bekam, allerdings nicht von der Mutter. Glaubhaft ist, was weiter geschah. – Es scheint weit hergeholt, einen unbewusst wirkenden Tötungswunsch gegen seine Schwester und seinen ( ggf. noch ungeborenen) Bruder für diese Handlungen verantwortlich zu machen.
Auch ist die gedankliche Verbindungskette zum Verhalten Johann Wolfgangs nach dem Tod seines Bruders Hermann Jacob weniger in der Befriedigung des Kindes durch den Wegfall eines brüderlichen Konkurenten zu suchen, sondern in der großen Enttäuschung des damals 9- jährigen Knaben, der sich für den kranken Hermann Jacob mehrere Lektionen ausgedacht hatte, die er dem 3 Jahre Jüngeren beibringen wollte. Diese Reaktion war normal und kindgerecht.
Wenn man die Familiensituation näher anschaut, wird klar, dass die Mutter tatsächlich grenzwertig überfordert gewesen muss und der Erstgeborene ab und zu sich selbst überlassen war, nicht nur während der Zeit umfangreicher Baumaßnahmen im Haus ab 1755 und während der französischen Einquartierung. Als Hermann Jacob starb, hatte die 28-jährige Mutter bereits 6 Geburten hinter sich – Johann Wolfgang, Cornelia (∗7.12.1750 / † 8.6.1777 ), Hermann Jacob (∗27.11.1752 / † 13.1.1759), Catharina Elisabeth (∗9.9.1754 / † 22.1.1756), eine Totgeburt (1.4.1756) und Johanna Maria (∗29.3.1757 / † 11.8.1759). 1760 bekam sie ihr 7. und letztes Kind, das im Alter von 8 Monaten verstarb. Auch Johann Wolfgang wurde von allen gefährlichen Kinderkrankheiten betroffen: jedesmal versicherte man mir, es wäre ein Glück, daß dieses Übel nun für immer vorüber sei; aber leider drohte schon wieder ein andres im Hintergrund und rückte heran. Alle diese Dinge vermehrten meinen Hang zum Nachdenken […] (HA 9,37) Es ist nachvollziehbar, wenn sich die beiden überlebenden Geschwister, Johann Wolfgang und Cornelia, eng aneinander schlossen.
Der Umstand, dass Goethe den Tod seiner Großmutter und seiner 4 Geschwister bis zu seinem 11. Lebensjahr erleben und verarbeiten musste, wäre erwähnenswert gewesen im Hinblick auf sein sich entwickelndes Verhältnis zum Tod, da insbesondere Goethes spätere Verhalten gegenüber Sterbenden, Beerdigungen und dem Tod von den Goethe-Biografen kontrovers und meistens abwertend beurteilt wird.
Die erste, dramatische Liebe des 14 /15- Jährigen geht bei Herrn Safranski leider schnell und etwas fälschlich berichtet vorüber. Doch dazu später irgendwann mehr, wenn ich wieder Zeit und Lust habe auf das Kunstwerk des Lebens.
Was erwarte ich vom Anfang einer Biografie? – Auf eine unterhaltsame Weise etwas zu erfahren von Groß/Eltern, den Umständen der Geburt, den Geschwistern, den Freunden, den besonderen Entwicklungsbedingungen, speziellen Fähigkeiten, eigenartigen Vorkommnissen… Es versteht sich von selbst, dass alle Aussagen auch stimmen sollten, mit Quellen belegt werden können, insbesondere dann, wenn es sich um ›Gerüchte‹ handelt, die ein neues Licht auf das Ganze werfen und meinungsbildend sind.
In unserem Fall hat Goethe selbst viel mitgeteilt, in seiner Autobiografie Dichtung und Wahrheit.
Was für ein schöner Titel! Dichtung und Wahrheit sind eine Einheit. Diese wird allerdings oft als ein Widerspruch interpretiert: entweder wahr oder erdichtet. Als ob sich Dichtung und Wahrheit gegenseitig ausschließen würden. Das gilt nur für den, der Dichtung mit ausgedachter Spinnerei verwechselt.
Hier wird ein Anspruch formuliert, der höher kaum sein kann: Dichtung und Wahrheit gehören zusammen, das eine ist ohne das andere nicht denkbar. Goethe war der Meinung, dass sich Geheimnisse besser in der Dichtung offenbaren und ausdrücken lassen, als in gewöhnlicher Prosa. (WA IV.35,158) Das finde ich spannend. Verdichtete Wahrheit.
Welchem Ansatz wird der Geisteswissenschaftler R. Safranski nachgehen?
Etwas vorauseilend suche ich nach einer Kritik, um zu schauen, was die Experten ggf. dazu sagen und bekomme eine überraschende Antwort: »Schon bei der Schilderung der ›schwierigen Geburt‹ Goethes verzichtet Safranski wohltuend auf die Zeilen aus Goethes autobiographischer Schrift ›Dichtung und Wahrheit‹, in denen schicksalsträchtig vom Schlag der Uhr und der Konstellation der Gestirne die Rede ist. Dies ist eine Ausnahme in der Goethe-Biographik, und der Autor setzt allein damit schon einen eigenen Akzent.« http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=18510 (Stand 27.4.2014)
Da Goethe selbst und alle früheren Biografen vor R. Safranski Wert auf etwas gelegt haben, das in seiner Weglassung Akzente setzt, bin ich neugierig geworden, zu wissen, was so »wohltuend« verschwiegen wird und warum. Goethe begann sein erstes Kapitel mit biografisch-astrologischen Daten: Am 28. August 1749, mittags mit dem Glockenschlage zwölf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt. Die Konstellation war glücklich; die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau, und kulminierte für den Tag; Jupiter und Venus blickten sie freundlich an, Merkur nicht widerwärtig; Saturn und Mars verhielten sich gleichgültig: nur der Mond, der soeben voll ward, übte die Kraft seines Gegenscheins um so mehr, als zugleich seine Planetenstunde eingetreten war. Er widersetzte sich daher meiner Geburt, die nicht eher erfolgen konnte, als bis diese Stunde vorübergegangen. Diese guten Aspekten, welche mir die Astrologen in der Folgezeit sehr hoch anzurechnen wußten, mögen wohl Ursache an meiner Erhaltung gewesen sein: denn durch Ungeschicklichkeit der Hebamme kam ich für tot auf die Welt, und nur durch vielfache Bemühungen brachte man es dahin, daß ich das Licht erblickte. (HA 9,10)
Warum hat dieser Text (k)eine Aufmerksamkeit verdient? Weil die Sonne glücklich stand?
Was aber sonst noch, besonders über die halb poetische, halb historische Behandlung etwa zu sagen sein möchte, dazu findet sich wohl im Laufe der Erzählung mehrmals Gelegenheit, teilte Goethe in seinem Vorwort zu »Dichtung und Wahrheit« mit. (HA 9, 10) — Ich sollte eigentlich zunächst lesen, was Goethe selbst zu erzählen hat, direkt aus der primären Quelle …
Ὁ μὴ δαρεὶς ἄνθρωπος οὐ παιδεύεται. Mit diesem mehr als 2200 Jahre alten Satz des griechischen Komödiendichters Menandros begann Goethe seine autobiografischen Geschichte: »Der Mensch, der nicht geschunden wird, wird auch nicht erzogen.« – Das klingt nicht wohltuend. Doch warum ist gerade diese die Zeiten überdauernde Aussage so bedeutend, dass sie von Goethe als Motiv für sein Leben bestimmt wurde ? Er stellte sie allem voran.
Diesen ersten Satz von Goethes offenbartem Lebensgeheimnis lässt der Literaturwissenschaftler ebenso wegfallen. Er fragt sich das nicht, obwohl er 10 Jahre lang um sein Werk gerungen hat und weiß, dass es ohne Fleiß keinen Preis gibt.
Zurück zur Geburt. Die astrologische Konstellation am 28.8.1749 werde ich später mit aktuellen horoskopischen Programmen einmal überprüfen. Wie sie Goethe präsentiert ist sicher kein Zufall. Demjenigen, der um die alchemistisch-mystische Bedeutung der aufgezählten sieben Gestirne weiß, klingt sie schon jetzt vielversprechend und im Hinblick auf die Kraft des Gegenscheins sowieso spannend.
Dass astrologische Gegebenheiten auch symbolhaft dafür stehen, dass alles bereits zum Zeitpunkt unserer Geburt festgelegt ist (nicht zu verwechseln mit: »schicksalsträchtig« vorherbestimmt), wird dann verständlich, wenn wir z.B. an unsere Gene denken. Niemand kann sehr hoch springen, wenn er kurze Beine hat, der Kurzsichtige sieht nicht, was in der Weite geschieht, ein zartbesaiteter Mensch wird kein Politiker usw. Das, was wir bei der Geburt mitbekommen, können wir nutzen, etwas anderes haben wir nicht. Das allerdings zu erkennen, zu entfalten und zu leben, ist eine große – auch goethische – Forderung an uns. Ein anderer Aspekt: sind wir nicht alle in eine unbekannte universale Ordnung eingebettet?
Goethe hat als 68-jähriger diesen Gedanken verdichtet: Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen, / Die Sonne stand zum Gruße der Planeten, / Bist alsobald und fort und fort gediehen / Nach dem Gesetz, wonach du angetreten. / So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen, / So sagten schon Sibyllen, so Propheten; / Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt / Geprägte Form, die lebend sich entwickelt. (Urworte, Orphisch, BA 1,549)
Das ist etwas vorgegriffen, doch hier schließt sich ein Kreis zu den Geburtstagsaussagen.
Also noch einmal zur Geburt. Ich erfahre durch R. Safranski, dass es sich tatsächlich um eine schwierige Geburt gehandelt hatte, dass der Säugling für tot gehalten wurde und schließlich doch anfing zu atmen. Wie sehr sich die 18 Jahre junge Mutter darüber freute, wie groß das Wunder tatsächlich war, dass dieses Kind durch den erlittenen Sauerstoffmangel infolge der protrahierten Geburt keine schwere Gehirnschädigung davon getragen hatte, wäre vielleicht eine kleine Andeutung wert gewesen.
Dafür meint der Autor, dass der eben geborene Knabe mit Hilfe dieser Anstrengung später einmal als Dichter seine erste Pointe in seiner Autobiografie setzen wird, indem der Großvater mütterlicherseits als Schultheiß der Stadt Frankfurt angeregt worden war, eine bessere Ausbildung für Hebammen zu fordern. Zur gleichen Zeit etwa habe dieser Großvater mit seinem Schwiegersohn hieb- und stichfeste Kämpfe ausgefochten – wovon freilich der neugeborene Junge nichts mitbekommen konnte, was dieser aber doch in seiner Autobiografie hätte erwähnen müssen, findet Herr Safranski, ohne dass er den Zeitzeugen als Quelle dieser verschwiegenen innerfamiliären Spannungen näher bezeichnet. Der Eindruck, Goethe habe sich nicht zu diesen Konflikten geäußert, täuscht. In Dichtung und Wahrheit beschrieb Goethe, wie er als 7-Jähriger die Auswirkungen der unterschiedlichen politischen Meinungen während des »Siebenjährigen Krieges« (1756 -1763) erlebt hatte: Man stritt, man überwarf sich, man schwieg, man brach los. (HA 9,46) Der Vater war preußisch gesinnt, der Großvater kaiserlich. Dieser Streit störte den familiären Zusammenhalt. Johann Wolfgang sah sich zwischen den Fronten, wenn er Sonntagmittag allein beim Großvater war. Schon damls war das Gewahrwerden parteiischer Ungerechtigkeit dem Knaben sehr unangenehm, ja schädlich, indem es ihn gewöhnte, sich von geliebten und geschätzten Personen zu entfernen. (HA 9,48) Die Kinder verarbeiteten die Konflikte in Puppen- und Theaterspielen: Daß solche Spiele auf Parteiungen, Gefechte und Schläge hinwiesen, und gewöhnlich auch mit Händeln und Verdruß ein schreckliches Ende nahmen, läßt sich denken.( HA 9,50) Goethe sah in dieser kindlichen Unterhaltung und Beschäftigung andererseits auch einen Grund dafür, dass bei ihm auf sehr mannigfaltige Weise die Einbildungskraft und eine gewisse Technik geübt und befördert wurde, wie es vielleicht auf keinem andern Wege in so kurzer Zeit und mit so wenigem Aufwand hätte geschehen können. (HA 9,49) Diese Ergänzung um die Ereignisse ab 1756 scheint mir für das Verständnis der späteren Lebenshaltungen von Goethe nicht ganz unbedeutend.
Recht ausführlich erfahre ich bei R. Safranski dafür, dass der Vater des Knaben, Johann Caspar Goethe, aus dem Hotelgeschäft und Weinhandel seiner Eltern ein ansehnliches Vermögen geerbt hatte, dass er trotz seiner Juristen-Ausbildung und seines gekauften Titels »Kaiserlicher Rat« keiner Arbeit nachging und auch sonst wenig Werke vorzuweisen hatte, als dieser die (übrigens 21 Jahre jüngere) Tochter des angesehenen Frankfurter Schultheißes im Jahr 1748 heiratete. Was allerdings daran schlecht gewesen war, dass die kleine Familie in dem stattlichen Haus am Großen Hirschgraben zusammen mit der Weidenhofwirtin wohnte, der Mutter von Johann Caspar, Cornelia Goethe (verw.Walther), ist nicht nachzuvollziehen, zumal sie bereits 1754 verstarb. Andererseits fand es der neue Goethe-Biograf an dieser Stelle wichtig zu erwähnen, dass sich im Keller dieses Hauses begehrte Jahrgänge von Wein befanden, die eine Christiane Vulpius 1806 in Weimar gegen französische Marodeure verteidigen wird.
Der Autor setzt voraus, dass ich ihm in dem Durcheinander folgen kann, den Lebenslauf des gerade geborenen Knaben bereits kenne und somit weiß, dass dieser einmal in Weimar wohnen wird, zusammen mit den großmütterlichen Weinflaschen und Christiane Vulpius. Einige Seiten in diesem ersten Kapitel weiter – der jetzt junge Student Goethe hatte aus Leipzig zurückkehrend, einen Streit mit dem unzufriedenenVater hinter sich, über einen 14 Jahre zurückliegenden Umbau des Treppenhauses und über seinen Studienerfolg [sic] – taucht der Name Christiane Vulpius erneut auf. Zweimal wird diese Frau genannt und wir wissen schon über sie Bescheid: die erfolgreiche Kämpferin um die Weinflaschen ist des erwachsenen Goethes corpulenter Bettschatz in Weimar.
Im Zusammenhang mit der Vorstellung von Goethes Mutter Catharina Elisabeth Textor, macht sich der Autor Gedanken, warum Goethe später seine Mutter nicht in seiner Nähe haben wollte. Er vermutet, Goethe habe befürchtet, dass die Mutter mit ihrer Natürlichkeit in der vornehmen und förmlichen Welt Weimars anecken könnte und sich und der Mutter diesen Verdruß ersparen wollte. Ich erfahre, dass Goethes Mutter mit Anna Amalia einen herzlichen, fast ungestümen Briefwechsel unterhielt. Wer nun weiß, dass Anna Amalia in Weimar, die höchste adlige Person war, die Herzoginmutter, sollte die Überlegungen des Biografen zumindest befremdlich finden. Es scheint hier nicht der richtige Zeitpunkt, zu klären, warum Goethe seine Mutter in ihren letzten 11 Lebensjahren nicht mehr in Frankfurt besucht hat, doch ist der Eindruck entstanden, dass die Mutter-Sohn-Beziehung irgendwie fragwürdig bzw. gestört gewesen sei, ohne, dass der Autor mich aufgeklärt hat.
Wieder zurückgekehrt zum Kind Johann Wolfgang, lese ich etwas von einer heiklen Beziehung des Knaben zu seiner jüngeren Schwester Cornelia, wieder ohne etwas Bestimmteres darüber zu erfahren, so dass meiner Fantasie keine Grenzen gesetzt sind.
Trotz der ungeheuren Andeutung, muss ich hier eine Pause machen und mich strukturierteren Alltagstätigkeiten widmen. Ich weiß nicht, wann ich wieder an das Kunstwerk des Lebens herankommen werde.