Wer ist Faust? – Kommentar zum Programmheft der Faust-Inszenierung 2013/14 (DNT Weimar)

 

In dem Verständnis der Kommentatoren erfahre ich, dass Faust der Protagonist der Moderne ist, das von Panik getriebene Subjekt, panisch vor Angst, dem Moment des Verweilenwollens nicht entrinnen zu können, ein närrischer Dilettant, ein Zerstörer, ein Gejagter auf der Jagd, ein Mann ohne inneren Halt, ohne stabiles Wertesystem, dem der Glanz des besonderen Einzelnen im letzten Jahrhundert abhanden gekommen ist.(B.Seidel)

Er ist ein Held ohne Charakterkonstanz und personale Identität, rücksichtslos egozentrisch, ein freudloser Verderbenbringer, dessen Unternehmungen unentwegt scheitern und ausnahmslos in die Katastrophen führen, cholerisch aufbrausend, maßlos übertreibend, lachhaft großsprecherisch. (A.Schöne)

Zwischen den Polen Begierde und Genuß entpflichtet sich Faust der Beständigkeit menschlicher Beziehungen und der Treue, er ist kein Handelnder, der sich für eine konkrete Tat zu entscheiden vermag.(W.Keller)

Seine Wette auf Unglücklichsein, seine über das Menschenmögliche hinaus gerichteten Bestrebungen und das ängstliche Vermeiden eines erfüllten Lebens sind charakteristisch für ihn. (P.Klee)

Als unentwegt Strebender agiert er im Dienst der teuflischen Seinsnegation. Er ist der moderne Pathetiker mit einem verzweiflungsvollen und destruktiven Furor, der moderne technische und wissenschaftliche Pfuscher, der sich anschickt, ohne Kenntnis der Naturgesetze und ohne Geduld für das anschauende Studium der Natur, die Welt im Sinne seiner pathetischen Imagination zu kolonisieren und bei diesem maßlosen Unterfangen das ultimative Desaster herbeiführt.(M.Jaeger)

Da fragt man sich ernsthaft, warum der HERR meint, dass sich der Teufel ausgerechnet an diesem in jeder Hinsicht desolaten Menschen die Zähne ausbeißen wird… Es handelt sich ganz ohne Zweifel um eine psychiatrisch therapiebedürftige hochgestörte schizoide und sogar gefährliche Person. Mephisto wird zum Heilsbringer, er verkörpert das allmächtig erscheinende ökonomische und soziale Prinzip. ( B.Seidel)

Das ist doch mal eine Interpretation ganz im Sinne unserer Zeit – die zweifellos auch im Dienst ihrer ideologischen Instrumentalisierung steht (A.Schöne). Wenn sich Bedeutungszusammenhänge komplett verändert und die Wertigkeiten verschoben (B.Seidel) haben, wird das Opfer zum Täter gemacht.

An keiner Stelle wird in diesem Heftchen danach gefragt, was Faust denn im Sinn hatte, als er den schönen Augenblick, an dem er gern verweilen möchte, in die Waagschale seines Lebens warf. An keiner Stelle wird darauf hingewiesen, dass nur ein auf das Gemeinwohl gerichtetes Handeln am Ende die Erkenntnis und Erfüllung seines Strebens ist. – Warum wohl? Lesen können doch alle diesen sehr klaren Prolog im 5.Akt des zweiten Teils. Freilich sind Lesen und Verstehen nicht gleichbedeutend.

Dieses universale Werk Goethes hat soviele Ebenen… Nicht der Glanz des Faust ist abhanden gekommen, der Erkenntnishorizont ist enger geworden, die zunehmende Vereinzelung in absolut jeder Beziehung – kulturell, gesellschaftlich, wissenschaftlich, zwischenmenschlich – verhindert den Blick auf größere Zusammenhänge.

Trotz des Fortschritts sind wir ärmer dran als vor 200 Jahren. Goethe muss noch weiter warten, bis die vollendete Gestalt seiner verdichteten Erkenntnisse wahrgenommen und nicht mehr von des Augenblicks wilder Gewalt verschlungen wird.